Das Echo dunkler Tage
sagte er. Ich fiel ihm ins Wort:
Ich bin schon Mutter, habe ich gesagt, die Mutter eines Engels, und ich will von niemandem sonst die Mutter sein.«
Amaia spürte eine tiefe Traurigkeit. Das Drama dieser Frau war auch ihr Drama: Auch ihr Bauch war ein Grab für ungeborene Kinder. Annes Mutter konnte nicht mehr an sich halten, jetzt musste alles raus, was sie innerlich auffraß.
»Mit meiner Schwägerin habe ich seit fünfzehn Jahren kein Wort mehr gewechselt, und diese Hexe weiß nicht mal, warum. Bis heute. Auf der Beerdigung kam sie plötzlich mit verheultem Gesicht auf mich zu und hat mir zugeflüstert: ›Verzeih mir!‹ Sie hat mir so leidgetan, dass ich sie in den Arm genommen habe, aber geantwortet habe ich ihr nicht, weil ich ihr nämlich nie verzeihen werde. Ich bin keine Mutter mehr. Jemand hat mir die Rose gestohlen, die meinem Herz entsprungen ist, wie es in einem Gedicht heißt, und jetzt habe ich zwei Gräber, eines in meinem Bauch und eines in meinem Herzen. Fassen Sie den Kerl, stoppen Sie ihn, und wenn Sie ihn haben, erschießen Sie ihn! Wenn Sie es nicht tun, tu ich es. Ich schwöre bei meinen toten Kindern, dass ich ihn so lange verfolgen werde, bis ich ihn habe. Und dann kriegt er, was er verdient.«
Als sie wieder draußen waren, fühlte sich Amaia, als wäre sie nach einem langen Flug gelandet.
»Haben Sie die vielen Fotos gesehen?«, fragte Iriarte.
Sie nickte. Das ganze Haus war ein Mausoleum.
»Sie schien uns von überall her anzustarren. Wie die beiden in diesem Haus weiterleben sollen, ist mir schleierhaft.«
»Werden sie nicht«, sagte Amaia traurig.
Ihr Blick fiel auf eine Frau, die eilig die Straße überquerte. Offenbar wollte sie zu ihnen. Es war die Schwägerin, mit der Annes Mutter jahrelang nicht gesprochen hatte.
»Waren Sie gerade drin?«, fragte sie keuchend.
Amaia antwortete nicht. Die Frau war schließlich nicht deshalb so gerannt, um sie das zu fragen.
»Ich …« Sie zögerte. »Ich mag meine Schwägerin, wirklich, und was passiert ist, ist schrecklich. Ich wollte gerade zu ihnen, um … na ja, um ihnen beizustehen. Was soll man sonst auch tun? Es ist furchtbar, aber …«
»Aber was?«
»Anne, sie war nicht normal. Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Sie war hübsch, intelligent, aber mir ihr stimmte was nicht. Sie war böse.«
»Böse? Inwiefern?«
»Böse eben. Sie war eine Belagile, eine böse Hexe, außen weiß, innen schwarz. Schon als Kind sah sie einen so durchdringend an, hatte diesen bösen Glanz in den Augen. Hexen finden keinen Frieden, wenn sie sterben. Sie werden schon sehen. Anne ist noch nicht fertig mit dieser Welt.«
Sie redete ohne falsche Scheu, war von dem überzeugt, was sie sagte, als machte sie eine Aussage vor Gericht. Gleichzeitig war sie innerlich aufgewühlt, fast verängstigt, entfernte sich wie jemand, der eine schmerzliche Pflicht erfüllt hat.
Amaia und Iriarte brauchten einige Sekunden, bis sie sich wieder gefangen hatten. Als sie die Akullegi-Straße entlanggingen, klingelte Iriartes Telefon.
»Ja, sie ist hier bei mir, wir wollten gerade zurück ins Kommissariat. Ich richte es ihr aus.«
Amaia sah ihn gespannt an. Iriarte zögerte.
»Inspectora, Ihr Schwager Alfredo … Er hat versucht sich aufzuhängen, ein Freund hat ihn gerade noch rechtzeitig gefunden. Er ist jetzt im Krankenhaus von Pamplona, und es geht ihm gar nicht gut.«
Amaia sah auf die Uhr. Viertel nach fünf. Ros hatte gleich Feierabend.
»Iriarte, gehen Sie ins Kommissariat, ich will sehen, dass ich meine Schwester erwische, sie soll es nicht von jemand anderem erfahren. Danach fahre ich nach Pamplona ins Krankenhaus, versuche aber, so schnell wie möglich zurück zu sein, und wenn …«
Er unterbrach sie.
»Inspectora, das am Telefon eben, das war der Comisario. Er hat mich gebeten, Sie nach Pamplona zu begleiten. Offenbar hat der Selbstmordversuch Ihres Schwagers mit dem Fall zu tun.«
Amaia sah ihn bestürzt an.
»Mit unserem Fall?«
»Subinspector Zabalza erwartet uns im Krankenhaus, er kann Ihnen sicher mehr sagen. Um acht sollen wir dann beim Comisario erscheinen.«
20
S ie gingen die Braulio-Iriarte-Straße entlang in Richtung Tante Engrasis Haus. Früher hatte ihr Name Del-Sol-Straße gelautet, weil alle Häuser nach Süden ausgerichtet waren und die Sonne den ganzen Tag die Fassaden wärmte. Geändert wurde der Name zu Ehren eines Wohltäters der Stadt, der in Amerika mit dem Aufbau des Bierimperiums Corona reich geworden war und
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