Das Echo dunkler Tage
er je wieder laufen wird, wage ich zu bezweifeln.«
»Sind die Verletzungen typisch für diese Art von Selbstmordversuch?«, fragte Iriarte.
»Wie aus dem Lehrbuch, würde ich sagen.«
»Könnte es sein, dass jemand nachgeholfen hat?«
»Wir haben keinerlei Anzeichen dafür gefunden, dass er sich gewehrt hat, keine Kratzer, keine Abschürfungen, keine Hämatome, nichts, was darauf hindeutet, dass er gestoßen oder gezwungen wurde. Er ist die Treppe hochgestiegen, hat das Seil festgebunden und ist gesprungen. Die Verletzungen entsprechen genau diesem Szenario, nichts deutet darauf hin, dass er schon vorher erwürgt wurde. Habe ich mich klar genug ausgedrückt? Wenn Sie keine weiteren Fragen haben, erkläre ich den Fall für gelöst und mache mich wieder an meine Arbeit.«
Amaia musterte ihn und neigte leicht den Kopf.
»Moment, Doktor …« Sie näherte sich dem Arzt bis auf wenige Zentimeter und nahm sich alle Zeit der Welt, um sein Namensschild zu lesen. »… Martínez Larrea, richtig?«
Sichtlich verstört wich er zurück.
»Ich bin Inspectora Salazar von der Mordkommission und leite die Ermittlungen in einem Fall, in dem Alfredo Belarrain eine wichtige Rolle spielt. Verstehen Sie?«
»Schon, aber …«
»Es ist von großer Bedeutung, dass ich ihn befragen kann.«
»Völlig unmöglich«, antwortete er und hob beschwichtigend die Arme. Amaia machte wieder einen Schritt auf ihn zu.
»Obwohl Sie so intelligent sind, dass Sie unsere Arbeit gleich miterledigt haben, verstehen Sie offenbar immer noch nicht. Dieser Mann ist der Hauptverdächtige in einer Mordserie.«
Der Arzt wich noch ein Stück zurück, bis er fast auf dem Gang stand.
»Sollte dieser Mann tatsächlich ein Mörder sein, geht er nirgendwohin. Er hat Frakturen an Rücken und Luftröhre, ist intubiert, und er wurde in ein künstliches Koma versetzt. Selbst wenn ich ihn aufwecken würde, was ich nicht kann, könnte er nicht sprechen oder schreiben, ja nicht einmal blinzeln.« Er trat endgültig auf den Gang hinaus. »Kommen Sie mit«, flüsterte er. »Sie dürfen sich den Patienten ansehen, wenn auch nur durch die Glasscheibe. Zwei Minuten.«
Sie nickte und folgte ihm.
Nur das Bett erinnerte daran, dass hier ein Mensch lag, ansonsten hätte es auch ein Labor, ein Flugzeugcockpit oder die Kulisse eines Science-Fiction-Films sein können. Freddy war kaum zu sehen vor lauter Schläuchen, Kabeln und den helmartigen Polstern, die seinen Kopf stabilisierten. Aus dem Mund ragte ein Schlauch, der Amaia ungewöhnlich dick vorkam. Festgeklebt war er mit einem weißen Pflaster, das Freddys fahle Hautfarbe noch betonte. Nur an den geschwollenen Augenlidern war so etwas wie blasses Violett zu erkennen und auf der Wange die perlenfarbene Spur einer Träne. Wieder musste sie daran denken, wie sie ihn am Friedhofszaun gesehen hatte. Sie stand eine Weile da und überlegte, ob sie Mitleid mit ihm empfand. Ja, sie empfand Mitleid mit ihm, weil sein Leben in Trümmern lag. Aber kein Mitleid dieser Welt würde sie daran hindern, die Wahrheit herauszufinden.
Als sie wieder auf den Gang trat, stieß sie auf Freddys Mutter, die ebenfalls einen kurzen Blick auf ihren Sohn werfen durfte. Bevor sie auch nur den Mund aufmachen konnte, um sie zu begrüßen, schimpfte sie auch schon los.
»Was machst du hier? Der Doktor hat gesagt, dass du meinen Sohn verhören willst. Warum lasst ihr ihn nicht in Ruhe? Hat deine Schwester ihm nicht schon genug angetan? Sie hat ihm das Herz gebrochen. Er hat es nie verkraftet, dass sie ihn verlassen hat. Und jetzt ist er durchgedreht. Wozu willst du ihn überhaupt befragen?«
Amaia ging hinaus auf den Gang zu Zabalza und Iriarte. Nur die Glastür dämpfte das Geschrei von Freddys Mutter.
»Was ist passiert?«
»Dieser Idiot von Arzt hat Freddys Mutter gesagt, dass wir ihn des Mordes verdächtigen.«
21
D er Comisario empfing Amaia und Iriarte in seinem Büro. Er bat die beiden, Platz zu nehmen, blieb selbst aber stehen.
»Ich will gleich zum Punkt kommen«, kündigte er an. »Inspectora Salazar, als ich im Einvernehmen mit dem Polizeichef von Elizondo die Entscheidung traf, Ihnen die Leitung dieser Ermittlung zu übertragen, konnte ich nicht ahnen, dass der Fall eine solche Wendung nehmen würde. Dass ein Familienmitglied von Ihnen darin verwickelt ist, macht Sie befangen, und wir dürfen nicht riskieren, uns dadurch bei Gericht angreifbar zu machen.«
Er sah Amaia an, die scheinbar ungerührt blieb. Nur ihr Knie zitterte
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