Das Echo dunkler Tage
nennt man den Volksglauben, der bestimmten Personen übernatürliche Fähigkeiten zuschreibt, die ihnen von dämonischen Kräften verliehen wurden.« Man hätte es als harmlosen Aberglauben abtun können, wenn in den Tälern Navarras nicht Hunderte von Menschen, meist Frauen, der Hexerei und des Pakts mit dem Teufel bezichtigt und gequält, gefoltert und getötet worden wären. Der schlimmste Hexenjäger war der Inquisitor Pierre de Lancre aus der Diözese Bayonne gewesen, zu der Navarra im 15. Jahrhundert gehörte. Lancre hatte fest an die Existenz von Hexen und Dämonen geglaubt und sie unerbittlich verfolgt. Festgehalten hatte er seine Überzeugungen in einem Buch, in dem er bis ins kleinste Detail die Hierarchie der Hölle und ihre Entsprechung auf Erden beschrieben hatte.
Amaia hob den Blick und sah Anne Arbizu in die Augen.
»Warst du eine Belagile, Anne Arbizu?«, fragte sie laut.
Von den grünen Augen schien etwas Dunkles auszugehen, das sich bis zu ihr erstreckte. Ein kalter Schauder lief ihr über den Rücken. Sie seufzte, warf das Buch auf den Schreibtisch und verfluchte die Heizung in dem neuen Kommissariat, die an diesem kalten Wintermorgen die Räume nicht mal lauwarm kriegte.
Auf dem Flur war Gemurmel zu vernehmen, das immer lauter wurde. Sie sah auf die Uhr und stellte überrascht fest, dass es bereits Mittag war. Die anderen kamen herein, schoben lautstark Stühle hin und her, raschelten mit Papieren und dünsteten eine Feuchtigkeit aus, die wie eine kristalline Patina auf ihrer Kleidung zu liegen schien. Iriarte kam direkt zur Sache.
»Ich habe die Alibis überprüft. An Silvester haben Rosaura und Freddy bei Freddys Mutter zu Abend gegessen. Mit von der Partie waren auch die Tanten und einige Freunde der Familie. Gegen zwei sind sie aufgebrochen, um bis in die frühen Morgenstunden durch die Kneipen zu ziehen. Dabei wurden sie von vielen Leuten gesehen, und zwar immer zusammen. An dem Tag, an dem Ainhoa ermordet wurde, war Freddy den ganzen Tag zu Hause. Freunde gaben sich die Klinke in die Hand, er war keinen einzigen Moment allein. Sie haben mit der Playstation gespielt, haben sich bei Txokoto mit Brötchen eingedeckt und einen Film angesehen, wobei Freddy das Haus nicht verlassen hat, weil er nach Aussage seiner Freunde erkältet war.«
»Dann könnten wir ihn also als Täter ausschließen«, sagte Jonan.
»Was Carla und Ainhoa angeht, ja. Bei Anne ist das was anderes. Freddy war in letzter Zeit nicht mehr so gesellig wie früher, hat sogar seine Freunde mehrmals rausgeschmissen, angeblich weil er sich nicht so gut fühlte. Alle schwören, dass sie nichts von Anne wussten, sondern wirklich glaubten, er sei krank. Er habe ständig über Magenschmerzen geklagt und an dem Tag, als Anne ermordet wurde, sogar die Notaufnahme aufsuchen müssen.«
»Habt ihr wirklich mit allen Freunden gesprochen? Auch mit diesem Angel … Wie hieß er noch gleich mit Nachnamen? Der, der ihn gefunden hat. Wie es aussieht, hat er sich besonders intensiv um ihn gekümmert. Vielleicht weiß er doch mehr, als er zugibt.«
»Ostolaza«, sagte Zabalza, »Angel Ostolaza.«
»Das ist der Einzige, der noch fehlt. Er arbeitet in einer Werkstatt in Vera de Bidasoa, aber seine Mutter konnte sich nicht an den Namen erinnern. Sie hatte allerdings seine Telefonnummer. Er kommt zum Mittagessen nach Hause und will dann hier vorbeischauen.«
»Sonst noch was?«
»Sie hatten recht mit dem Handy, Chefin. Anne Arbizu hat vor knapp zwei Wochen ein neues bekommen, samt neuer Nummer. Ihrem Vater hat sie erzählt, sie hätte ihr altes verloren. Unter Freddys Post war auch seine letzte Telefonrechnung. Offenbar hat er sich in letzter Zeit nicht mal mehr die Mühe gemacht, sie zu verstecken oder zu vernichten. Tatsächlich sind alle Anrufe und Nachrichten an Annes alte Nummer aufgelistet. Auf Annes Computer haben wir Hinweise entdeckt, dass sie viel in sozialen Netzwerken unterwegs war. Echte Freunde oder Freundinnen scheint sie allerdings nicht gehabt zu haben, jedenfalls niemanden, dem sie Geheimnisse anvertraut hätte. Trotzdem hat sie sich damit gebrüstet, etwas mit einem verheirateten Mann zu haben. Mehr habe ich nicht.«
Nach der Versammlung blieb Jonan noch da und blätterte in Hexerei und Hexen . Als Amaia es bemerkte, grinste er.
»Chefin, sagen Sie bloß, dass Sie den Fall aus einer ganz neuen Perspektive angehen wollen.«
»Mir schwirrt schon der Kopf vor lauter Perspektiven. Der Täter geht so schnell und gründlich
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