Das Echo dunkler Tage
Stirn und Nacken und sah das Handy an, das durch die Vibrationen über das Tischchen wanderte wie ein unheimlicher Riesenkäfer.
Ihr wilder Herzschlag hämmerte in ihren Ohren. Sie atmete mehrmals tief durch, bevor sie sich meldete.
»Inspectora Salazar?«
Iriartes Stimme holte sie mit einem Schlag in die Wirklichkeit zurück.
»Ja. Was gibt’s?«
»Habe ich Sie geweckt? Tut mir leid.«
»Macht nichts«, erwiderte sie. Und dachte: Ich bin ihm fast dankbar.
»Mir ist was eingefallen. Als wir die Leiche entdeckt haben, sagten Sie etwas, was mir nicht mehr aus dem Kopf ging: Schneewittchen. Erinnern Sie sich? Merkwürdigerweise hatte ich die gleiche Assoziation, aber ich wusste nicht, warum. Und jetzt ist es mir wieder eingefallen. Diesen Sommer war ich mit meiner Familie am Meer, in Taragona, in so einer Hotelanlage mit Swimmingpool und Freizeitprogramm für die Kinder. Eines Morgens ist uns aufgefallen, dass die Kleinen irgendwie aufgekratzt waren, als läge ihnen etwas auf der Seele. Sie sind nervös im Garten hin und her gelaufen, haben Stöckchen, Steinchen und Blumen gesammelt und ganz geheimnisvoll getan. Also bin ich ihnen nachgegangen. In einer Ecke des Gartens hatten sie einen regelrechten Pulk gebildet, um einen toten Spatz herum, und hielten eine Art Totenwache. Sie hatten das Vögelchen auf Papiertaschentücher gebettet, Kieselsteine und Muscheln drumherum gelegt und Blumen ausgestreut wie zu einem Kranz. Ich war gerührt und habe sie dafür gelobt, aber auch erklärt, dass tote Vögel Krankheiten übertragen können und sie sich die Hände waschen sollten. Es hat mich viel Mühe gekostet, sie von dem Tier wegzulocken, stundenlang musste ich mit ihnen spielen. Trotzdem sah ich in den nächsten Tagen, wie immer wieder Kinder zu der Ecke gingen, in der der Spatz lag. Irgendwann habe ich einen Hotelangestellten gebeten, den toten Vogel zu entfernen. Sie hätten die Reaktion der Kinder sehen sollen, dabei hatten sich in dem Tier schon Würmer eingenistet.«
»Sie glauben also, dass die Jungs, die die Leiche gefunden haben, den Tatort geschmückt haben?«
»Der Vater hat ausgesagt, dass sein Sohn mit seinen Freunden in den Bergen war. Und dass sein Sohn ihm nicht gleich von dem toten Mädchen erzählt hat. Vielleicht haben sie eine Art Totenwache gehalten und die Blumen ausgestreut. Die Fußspuren, die wir bei dem Parfümflakon entdeckt haben, waren eher klein. Wir gingen davon aus, dass sie von einer Frau stammen, aber sie könnten genauso gut von einem Kind sein. Ich bin mir fast sicher, dass die Kinder bei der Leiche waren.«
»Schneewittchen und ihre Zwerge.«
Mikel war erst acht, aber er wusste schon sehr genau, was es hieß, in ernsthaften Schwierigkeiten zu stecken. Er saß auf einem Stuhl in Iriartes Büro und schaukelte voller Anspannung mit den Füßen. Immer wieder lächelten seine Eltern ihm beruhigend zu, was seine Befürchtungen aber eher bestätigte. Seine Mutter hatte ihm mindestens dreimal Kleidung und Haare zurechtgestrichen und ihm dabei besorgt in die Augen gesehen, wie immer, wenn sie selbst unsicher war. Sein Vater war schon etwas deutlicher gewesen: »Keine Angst, es wird alles gut. Die Polizisten werden dir Fragen stellen, und du sagst einfach die Wahrheit.« Die Wahrheit. Wenn er die Wahrheit sagen würde, wäre die Hölle los. Aber dann waren seine Freunde Jon, Pablo und Markel aufs Revier gekommen, einer nach dem anderen war an der offenen Tür vorbeimarschiert. Er hatte die Angst in ihren Augen gesehen und gewusst, dass es keinen Ausweg gab. Markel war schon zehn und würde vielleicht dichthalten. Aber Jon war ein Angsthase und würde alles verraten. Er sah noch mal zu seinen Eltern und wandte sich dann an Iriarte.
»Wir waren’s.«
Sie brauchten eine halbe Stunde, um die Eltern davon zu überzeugen, dass kein Anwalt nötig war, den Kindern werde schließlich kein Verbrechen zur Last gelegt, man müsse nur mit ihnen sprechen. Als die Eltern schließlich einlenkten, führte Amaia alle in den Versammlungsraum.
»Also, Jungs«, begann Iriarte, »wer von euch erzählt mir, was passiert ist?«
Die Kinder sahen sich erst gegenseitig und dann ihre Eltern an, aber keiner machte den Mund auf.
»Soll ich euch lieber Fragen stellen?«
Sie nickten.
»Also gut. Seid ihr oft zu dieser Hütte gegangen?«
»Ja«, antworteten alle gleichzeitig.
»Wer hat sie gefunden?«
»Mikel und ich«, flüsterte Markel nicht ohne Stolz.
»Was ich jetzt frage, ist sehr wichtig: Erinnert ihr
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