Das Echo Labyrinth 01 - Der Fremdling
anderer die Gabe, mit jeder beliebigen Person Kontakt zu knüpfen, und so trafen wir uns eine ganze Weile zum Plaudern in diesem Cafe. Manchmal erzählte ich meinen Freunden in der realen Welt ein paar der außergewöhnlichen Geschichten, die ich von meinem neuen Bekannten gehört hatte. Sie rieten mir, alles aufzuschreiben, doch das habe ich irgendwie nicht geschafft. Ich spürte, dass manche Sachen nicht aufs Papier gehörten, und ehrlich gesagt war ich auch zu faul, mich Tag für Tag hinzusetzen und ein Traumprotokoll zu führen.
Unsere seltsame Freundschaft begann plötzlich und für mich absolut unerwartet. Eines Tages - es ist schon viele Jahre her - brach mein mir schon vertraut gewordener Gesprächspartner mitten im Wort ab, sah mit der komischen Ernsthaftigkeit eines Verschwörers nach links und rechts und sagte geheimnisvoll flüsternd: »In Wirklichkeit schläfst du, Max. Dies alles ist nur ein Traum.«
Ich war ganz verwirrt, erhob mich so rasch, dass mein Stuhl umstürzte, und erwachte auf dem Boden meines Schlafzimmers.
In den nächsten sieben Jahren träumte ich alles Mögliche, aber nie wieder von den Mosaikgehsteigen jener wunderbaren Stadt. Ohne diese Bilder war mir langweilig, und mein Leben und meine Geschäfte liefen reichlich schlecht. Ich verlor das Interesse an den alten Freunden, stritt mich mit Freundinnen, wechselte die Arbeitsstelle öfter als das Hemd und warf Bücher weg, in denen ich keinen Trost gefunden hatte. Außerdem zettelte ich immer neue Streitereien an, als wollte ich die ungeliebte Wirklichkeit durch den Wolf drehen.
Im Laufe der Zeit beruhigte ich mich natürlich wieder und genehmigte mir ein Füllhorn neuer Lebensfreuden: Freunde, Mädchen, eine erträgliche Arbeit, eine hübsche Wohnung und eine eigene Bibliothek, die mehr von den Ambitionen als vom Geschmack ihres Besitzers zeugte. In der Kneipe bestellte ich Kaffee statt Alkohol, rasierte mich jeden zweiten Tag, duschte morgens und gab die Wäsche in die Reinigung. Ich lernte, mich zu beherrschen und giftige Bemerkungen zu machen, statt meine Fäuste zu benutzen. Und dennoch war ich nicht stolz auf mich, sondern spürte wieder die gleiche dumpfe Schwermut, die mich schon in meiner Jugend verrückt gemacht hatte. Ich fühlte mich wie ein Toter, der aus dem Grab gestiegen ist und sich an die leise, unauffällige Existenz unter lauter Zombies gewöhnt.
Aber ich hatte teuflisches Glück.
Eines Morgens, als ich nach der Nachtschicht in der Redaktion schlafen gegangen war, sah ich im Traum die lange Theke wieder, meinen Lieblingsplatz und den alten Bekannten, der mich am Nachbartisch erwartete. Ich erinnerte mich sofort, wie unser letztes Treffen geendet hatte. Ich begriff auch rasch, dass ich träumte, und fiel deshalb auch nicht vom Stuhl, erwachte nicht und war auch nicht erschrocken. Ich hatte im Laufe des Erwachsenwerdens eben gelernt, mich zu beherrschen.
»Was geschieht hier?«, fragte ich. »Und wie?«
»Das weiß ich nicht«, entgegnete mein alter Freund. »Meiner Meinung nach weiß das keiner. Es geschieht nun mal, und es ist mein Hobby, die Ereignisse möglichst genau zu beobachten.«
»Sie wissen nicht, was hier los ist?«, begann ich verwirrt und hatte den Eindruck, er müsste Antworten auf all meine Fragen wissen.
»Darum geht es nicht«, fiel er mir ins Wort. »Sag mir lieber, ob es dir hier gefällt.«
»Was für eine Frage? Das ist mein Lieblingstraum! Als ich ihn nicht mehr träumte, dachte ich, ich werde wahnsinnig.«
»Verstehe. Und gefällt es dir dort, wo du lebst?«
Ich zuckte die Achseln. Damals hatte ich einige Probleme - keine Katastrophen (die gehörten endgültig der Vergangenheit an), sondern langweilige und alltägliche Misshelligkeiten. Ich war einfach glücklicher Besitzer eines total misslungenen, ruhigen und maßvollen Lebens und hatte die große Illusion, ich hätte Besseres verdient.
»Du bist ein Nachtmensch«, sagte mein Gesprächspartner. »Und du hast ein paar Schrullen, oder? Und da, wo du lebst, stören dich diese Schrullen vermutlich im Wachzustand.«
»Stören?«, rief ich aufgebracht. »Das ist das falsche Wort.«
Ich bemerkte gar nicht, dass ich diesem sympathischen älteren Mann alles erzählte, was ich auf dem Herzen hatte. Warum hätte ich mich auch zusammenreißen sollen? Schließlich war das Ganze - wie ich seit sieben Jahren wusste - nur ein Traum.
Er hörte mir teilnahmslos zu, lachte mich aber wenigstens nicht aus, wofür ich ihm bis heute dankbar
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