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Das Echo

Titel: Das Echo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minette Walters
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aus halbgeschlossenen Augen. »Es spielt gar keine Rolle, wo sie politisch steht, weil ich sie nur dann einbeziehe, wenn sie was von Belang zu sagen hat. Die Frau ist Ihre Idee, JP, nicht meine. Die Obdachlosigkeit ist ein viel zu ernstes soziales Problem, um es von einer dicken Konservativen, die in ihr Spitzentüchlein heult, herabwürdigen zu lassen.« Er zündete sich eine Zigarette an und warf das Streichholz ärgerlich in einen bereits überquellenden Aschenbecher. »Ich hab’ mich in diese Sache reingehängt; und ich werde nicht zulassen, daß jetzt eine Schlammschlacht daraus gemacht wird. Mir geht’s um Lösungen, nicht um Häme und Besserwisserei.«
    Pearce ging zum Fenster und blickte auf die nasse, graue Fleet Street hinunter, wo Autos Stoßstange an Stoßstange durch den peitschenden Regen krochen. Hier und dort zeigte ein Fenster mit beleuchtetem Weihnachtsbaum und aufgesprühtem Kunstschnee kurzlebige Fröhlichkeit. Mehr denn je hatte er das Gefühl von Endzeit. »Was für Lösungen?«
    Deacon kramte in einem Stapel von Papieren auf seinem Schreibtisch und zog ein mit Maschine beschriebenes Blatt heraus. »Lösungen aufgrund eines allgemeinen Konsens. Ich habe die Meinungen von Politikern, Kirchenführern und verschiedenen gesellschaftlichen Interessenverbänden eingeholt, um zu sehen, wie sich das Bild in den letzten zwanzig Jahren verändert hat.« Er warf einen Blick auf das Blatt. »Es besteht allgemeine Übereinstimmung darüber, daß die Zahl der zerrütteten Familien, der drogen- und alkoholsüchtigen Jugendlichen sowie der Schwangerschaften Minderjähriger alarmierend ist, und ich nehme diese Übereinstimmung als Ausgangspunkt.«
    »Langweilig, Mike. Erzählen Sie mir was Neues.« Er beobachtete unten eine Prozession schwarzer Regenschirme und erinnerte sich an all die Beerdigungen, an denen er im Lauf der Jahre teilgenommen hatte.
    Deacon zog an seiner Zigarette und starrte auf JPs Rücken. »Zum Beispiel?«
    »Erzählen Sie mir, daß Sie ein Statement eines Ministers haben, das besagt, daß alle ledigen Mütter sterilisiert werden sollten. Dann erlasse ich Ihnen vielleicht das Interview mit Mrs. Powell. Haben Sie so was?« Sein Atem beschlug das Glas.
    »Nein«, entgegnete Deacon gelassen. »So seltsam es ist, ich habe nicht einen einzigen Politiker der etablierten Parteien gefunden, der so dumm war.« Er ordnete die Papiere auf seinem Schreibtisch. »Wie wär’s mit folgendem Zitat: Die Armen sind immer bei uns, und die einzige Art, mit ihnen umzugehen, ist, sie zu lieben.«
    Pearce drehte sich herum. »Wer hat das gesagt?«
    »Jesus Christus.«
    »Soll das witzig sein?«
    Deacon zuckte gleichgültig die Achseln. »Nicht unbedingt. Ein Denkanstoß vielleicht. In zweitausend Jahren ist niemand auf eine bessere Lösung gekommen. Kein Politiker, gleich, wo oder wann, hat es geschafft, das Problem zu lösen. Ob es einem nun gefällt oder nicht, sogar der Kommunismus hat seinen Anteil an Mittellosen.«
    »Wir sind ein politisches Magazin, keine christliche Postille zur moralischen Aufrüstung«, sagte JP kalt. »Wenn Schlammschlachten Ihnen so sehr zuwider sind, hätten Sie beim Independent bleiben sollen. Denken Sie daran, wenn Sie mir das nächstemal erzählen wollen, daß Sie sich die Hände nicht schmutzig machen möchten.«
    Gedankenverloren blies Deacon einen Rauchring in die Luft. »Sie können es sich gar nicht leisten, mich rauszusetzen«, murmelte er. »Nur mein Name hält doch dieses Käseblatt noch über Wasser. Sie wissen genausogut wie ich, daß bis zu dem Moment, als die Boulevardblätter meinen Artikel über das Gesundheitssystem für ihre Schauergeschichten über das Chaos im Gesundheitswesen plünderten, 99,9 Prozent der erwachsenen Bevölkerung dieses Landes keine Ahnung hatte, daß der Street überhaupt noch existiert. Ich bin für Sie ein notwendiges Übel.«
    Das war keine Übertreibung. In den zehn Monaten, während derer Deacon für die Zeitschrift arbeitete, hatten die Auflagenzahlen nach fünfzehn Jahren stetigen Abfalls wieder leicht zu steigen begonnen. Dennoch erreichten sie immer noch nicht mehr als ein Drittel der Auflage, die sie in den späten siebziger und den frühen achtziger Jahren gehabt hatten. Um den Street wieder auf die Beine zu bringen, waren radikalere Mittel notwendig als die gelegentliche Publicity, die ein einzelner aufwirbeln konnte, und nach Deacons Meinung hieß das, daß ein neuer Chefredakteur mit neuen Ideen hermußte - was JP durchaus klar

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