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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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fahren wir plötzlich aus dem Halbschlaf hoch. Schwere Kolbenschläge gegen die Haustür. «Aufmachen! Aufmachen!» Ada Norna stürzt die Treppe hinauf, um zu öffnen. Die Russen! In der nächsten Sekunde haben wir den Eindruck, daß es im Keller von Soldaten wimmelt. In Wahrheit sind es nur drei bis vier Männer, während andere oben in den Zimmern herum- stapfen. Die Rote Armee – eine spannende Begegnung. Die Russen in erdbraunen Uniformen; schwarz, bestäubt wie immer in einer Schlacht, bis an die Zähne bewaffnet, blicken sich scharf um. Wir lächeln unwillkürlich erleichtert, die Schlacht um Dahlem muß vorüber sein, die Russen sind ja schon hier.
    «Finnisch» sagt Ada Norna.
    «Norwegisch», sage ich, «keine Deutschen im Haus.»
    Die Russen wollen sich vergewissern, daß wir die Wahrheit sprechen, sie sehen sich unsere Pässe an, beginnen mit der Haussuchung. Zwei bleiben unten bei uns im Keller sitzen, ein Offizier und sein Adjutant – ein Unteroffizier? – ich kenne nicht die Abzeichen der Roten Armee, aber die beiden jungen Leute haben feinere Uniformen als die anderen mit vielen Orden und Medaillen: dem Roten Stern, dem Stalinorden, dem Leninorden auf der Brust; die anderen Russen wirtschaften in der Villa herum, jetzt hören wir sie in der Speisekammer, jetzt gehen sie die Treppe hinauf und in die Schlafzimmer im zweiten Stock, jetzt sind sie schon oben auf dem Boden.
    «Wasser», sagt der Adjutant, der gut Deutsch spricht, «wir wollen uns rasieren.» Wir holen Wasser in einer Schüssel, der Offizier wirft den Rock ab und der Adjutant beginnt ihn mit großer Geschicklichkeit einzuseifen. «Weißer Kragen?» fragt der Adjutant. Wir suchen einen hervor. Er bittet Frau Norna, ihn auf der Innenseite des Uniformkragens festzunähen. Frau Norna holt Nadel und Faden, setzt die Brille auf die Nase und nestelt den Kragen fest, so daß ein schmaler weißer Rand an der Kante heraussteht. Der junge Offizier will bei einem so feierlichenAnlaß wie der Eroberung von Berlin fein sein. Die Minuten verstreichen. Es ist ganz still im Keller. Die Toilette ist beendet. Neue Soldaten kommen und gehen, niemand spricht. Der Adjutant sieht sich im Keller um, der von Koffern und Kisten vollgestopft ist.
    «Waffen?» fragt er mit funkelnden Augen.
    «Nein, nein», sage ich, «keine Waffen.»
    «Essen für vier Personen!» fordert er mit der nächsten Frage. Frau Norna macht einige belegte Butterbrote zurecht.
    «Schnaps!» Der Weinvorrat der Villa besteht lediglich aus einigen Flaschen slowakischen Weißweins von geringer Qualität, übrigens sind die Flaschen auf den Regalen mit abgekochtem Wasser gefüllt. Wir korken sie auf, trinken selbst zuerst, um zu zeigen, daß es kein Gift ist, und lassen ihn kosten. Er zieht die Nase kraus. «Waffen?» fragt er wieder und weist auf eine Kiste in einer Ecke. «Aufmachen!» Wir öffnen einen Koffer nach dem andern, und er wühlt wie ein Zollbeamter alles durch, nimmt aber nichts an sich. Alles wäre gut und in Ordnung gewesen, wenn Frau Norna in ihrer Gutmütigkeit nicht Kisten von Freunden zur Aufbewahrung in der Villa aufgenommen hätte, die ja unter dem Schutz der schwedischen Gesandtschaft steht. Sie hat keine Schlüssel für diese Koffer, weiß nicht, was sie enthalten.
    Sollte nun in einem von ihnen ein Revolver liegen, würden wir verloren sein. Der Adjutant erbricht den Koffer mit dem Säbel. «Deins», sagt er zu Ada Norna und schleudert ihr alle möglichen weiblichen Kleidungsstücke hin, Kleider, Unterzeug, Seidenstoffe. «Deins» –, – sagt er zu mir und wirft mir Anzüge und Schlipse aus einem reichhaltigen Koffer in den Schoß, es soll offenbar der Lohn für die Aufbewahrung sein. Die letzte Kiste, die er aufbricht, ist unglücklicherweise bis an den Rand mit Wein und Spirituosen angefüllt – französischem Champagner, feinem Kognak, Mosel- und Rheinwein guter Jahrgänge, Likören; ein kleines Vermögen. Wären wir ihre bittersten Feinde gewesen, wir hätten ihnen keine tückischeren Schlingen legen, sie keinen gefährlicheren Lockungen aussetzen können. Die Russen strahlen über das ganze Gesicht. «Schnaps» – endlich, endlich! Ein bärtiger rotblonder Bursche, der sich ein Paar hellblonde Beinkleider als private Beute von einem der fremden Koffer ausgewählt hat, füllt eine Blechtasse mit Champagner und blickt skeptisch auf die brausende Flüssigkeit, ein fremdes Getränk für ihn, aber die ersten Schlucke machen ihn butterweich. Der Champagnerschaum perlt

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