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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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den Luftschutzkeller zurück und machen die eiserne Tür zu, wie mit einem der Leute verabredet. Die Worte dazu habe ich mir aus einem kleinen Wörterbuch zusammengeklaubt, und er hat verstanden: Tür schließen. Als wir 10 Minuten liegen, pocht es an der Tür. Draußen eine raunende Stimme: komm, komm. Nach leiser Beratung mit Schütz machen wir auf. Der Koch! Was will er? Er bringt einen großen Teller mit gekochtem Fleisch, das wir essen sollen. Wir sagen, dass wir so müde seien und lieber schlafen möchten. Er geht. Nach zehn Minuten neues Pochen. Wieder der Koch: muka, muka. Was ist das nun? Ein deutsch Sprechender vermittelt: er will weißes Mehl, um damit Koteletts zu braten. Das bekommt er und verschwindet wieder in seiner Küche. Ich rede den Freunden beruhigend zu, die beinahe vor Angst schlottern. Aber dann gibt esin der Nacht keine Störung mehr außer einer Salve deutscher Granaten sehr in der Nähe und mit Splittern unserer Fenster.
    Gert von Eynern 1902–1987
Berlin-Nikolassee
    Heute beginnt die Konferenz in San Francisco! Wann und wie werden wir etwas darüber erfahren?
    Rohrer ruft aus Zehlendorf West an. Er sei heute früh gegen 6 Uhr überrollt worden; Näheres – wie viele Panzer, auch Infanterie, in welcher Richtung und Dichte – wird er leider nicht befragt.
    Wir sind abwechselnd im Keller, im Haus, auf dem Boden. Mehrere Brände in der Nähe, ein Haus dicht beim Schlachter Röhl brennt ganz herunter, andere in Richtung Schlachtensee-Bunker und Machnow. Pferdegetrappel. Ein Wagen mit Russen (Pelzmützen), noch einer, ein dritter, mit Säcken beladen. Troß einer Kompanie, der hier in Deckung gebracht wird? Troß schon nachgerückt? Sie wenden bei der Garage von Nr. 8 und ziehen wieder weg.
    Ruth meldet einen einzelnen Russen im Garten von Nr. 8. Wir stehen etwas unschlüssig im Eßzimmer, schon klopft er an die Hintertür. Brügelmann ist wo? (oben auf meiner Logia und weiß nichts.) Gretel und Ruth und ich werden ins Eßzimmer geschickt, alle anderen in den Keller. Blutjung ist er, bös, scharf, Maschinenpistole. Erst werde ich rausgewiesen in den Keller, bald folgt Gretel aufgeregt, nach einiger Zeit Ruth; dann Brügelmann, der zu Ruth gekommen war, wieder hinaufgeschickt wurde, der Soldat war dann zu ihm gekommen und hatte seine Armbanduhr erhalten. Und ist weggegangen.
    Langsam wagen wir uns nach oben, essen aber den Kartoffelsalat mit Beilage im Keller, mit Cognac. Ab 9 schlafen wir dort ein, trotz zahlreicher Gewehrschüsse und Schießerei eines nah eingebauten Mörsers. Einige nahe Abschüsse hatten Fenster an der Hintertreppe zerschlagen. Ein Granattreffer nachmittags brachte Schaden an Nr. 9 und 8, Brügelmann hat EW im Schach besiegt.
    Frau Speer †1968
Berlin-Zehlendorf
    Daß wir nun wirklich russisch waren, merkten wir, als es hell wurde, und das war so um halb 5 Uhr herum. Da begann draußen ein sonderbares Leben, ein lautes Getrappel und Gebumse an der Türen, man hörte Sägen und Äxte arbeiten, fremde Stimmen in ganz fremder Sprache. Wir standen dann leise auf und machten uns fertig. Die Frau wurde in die oberen Räume geschickt und sollte sich ruhig verhalten. Die Straße war voller Russen, die in alle Häuser hinein- und herausgingen. Ich guckteinteressiert zu. Sibylle tat das von oben. Hinten im Garten spazierten die Russen herum, zertraten aber nichts, trotzdem sie über die niedrigen Zäune kletterten und so von einem Haus zum anderen gingen.
    Es war wunderschönes Wetter. Ich hatte mein grünes Kostüm an, das ich überhaupt in den Tagen gar nicht ausgezogen habe, wohl 14 Tage lang, und Sibylles grünes Kopftuch um. Als ich in der Küche anfing aufzuräumen, guckte der erste Russe durch das Gitter und sagte: Hei! Das sollte wohl «Heil» heißen. Er lachte freundlich und ich auch, und er ging weiter. Die Truppen sahen übrigens fabelhaft aus. Lauter gesunde große Kerle in tadelloser Ausrüstung.
    Es verging eine Zeit, als ich plötzlich merkte, daß welche auf der kaputten Gartentreppe standen und ins Zimmer wollten. Ich rief sie an, sie kamen dann ans Küchenfenster und stiegen munter das Treppchen hinunter. Ich sagte ihnen, sie sollten vorsichtig sein und meine Wasserkübel nicht umwerfen. Sie nahmen sich auch sehr in acht.
    Im Eßzimmer stand Sibylles Wellensittich. Das war ein Entzücken! Besonders der eine fing an mit dem Vogel zu reden und zu spielen. Der andere betrachtete andächtig die Holbeinsche Familie. Der erste war ein kleiner tatarischer schwarzer Typ

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