Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

italienische Faschismus geht also auch seinem Ende entgegen.
    Ich erinnere mich noch lebhaft an einen Abend vor vielen Jahren, als Gorki zu uns gekommen war und über das faschistische System in diesem Land erzählte.
    Richard Falk
Lauterbach
    Wie es an den Fronten steht und was in der Politik vorgeht, weiß niemand mit Sicherheit. Als einzige deutsche Sender melden sich nur noch Hamburg und München, die man aber mit dem Volksempfänger nicht hören kann. Die amtlichen Auslandssender halten sich auffallend zurück. Um so lauter sind ausländische Hetzsender. Es gehen Gerüchte um, daß Göring «wegen Herzleidens» seine Ämter niedergelegt habe, daß Himmler den Engländern und Amerikanern, nicht aber auch den Russen die bedingungslose Kapitulation der Wehrmacht angeboten habe, daß Reichswirtschaftsminister Funk eine neue Regierung mit General von Brauchitsch als Kriegsminister bilde, daß Mussolini am Comer See, unweit der Schweizer Grenze, von Italienern festgenommen und bald darauf erschossen worden sei, daß seine Leiche in Mailand ausgestellt sei und von der Bevölkerung besichtigt werden könne.
    Rachele Mussolini 1892–1979
Como
    Dann wurde ich von meinen Kindern getrennt und in eine kleine Zelle des Gefängnisses gebracht, wo schon andere Frauen waren und ständig weitere hinzukamen. In der allgemein herrschenden Aufregung wurde mein Kommen nicht bemerkt. Man sah mich kaum an, da man sich zum hundertsten Male die Geschichte der jeweiligen Verhaftung erzählte. Nur eine blickte mich an, ihre Augen weiteten sich, und sie rief: «Sie sind hier?» Mit einer Handbewegung brachte ich sie zum Schweigen, und sie fing an leise zu weinen. Langsam kamen auch Nachrichten über das, was draussen geschah. In regelmässigen Abständen hörte man vom nebenan liegenden Hof einen schauerlich klingenden Namensruf, dem dann Schüsse folgten. Dann kam eine Pause, in der die Räder eines Karrens knarrten, und dann gab es wieder einen Namensaufruf.
    So dauerte die Tragödie die ganze Nacht. Die junge Frau, die mich erkannt hatte, war verzweifelt um ihren Mann, der in jenem Hof gefangengehalten wurde, und bei jedem Namensaufruf klammerte sie sich mit hysterischen Schreien an das Gitter. [...]
    Eine andere Gefangene war eine arme Hausmeisterin, die auf Anzeige eines Jünglings verhaftet wurde. Man beschuldigte sie, vor Monaten einem Faschisten ein Zimmer besorgt zu haben. In dieser allgemeinen Tragödie fühlte ich mich fast ruhig, und die anderen fragten mich höchst erstaunt: «Ja, und Sie? Sie weinen nicht? Haben Sie denn niemanden verlassen?» Aber wenn der Schmerz so stark ist, lähmt er.
    Zentralfriedhof-Friedrichsfelde
Berlin
    Margarete B.
    Frankfurter Allee 177
    Selbstmord (vergiftet)
     
    Hans B.
    Frankfurter Allee 177
    Selbstmord (vergiftet)
    *
    Der Luftwaffenhelfer Bruno Hoenig *1928
bei Koblenz
    Ich bin mir darüber klargeworden, daß ich mit meinen Anschauungen, Wünschen und Gedanken nicht in diese Zeit passe. Ich habe es gern, mal etwas vergnügt zu sein, und hasse aber den heutigen Prunk undjede Schminke. Ich bin auch zu offen und ehrlich. Ich kann es nicht, daß ich jemand schöntue und im Inneren der Ansicht bin, daß er nichts taugt. Dann bin ich aber auch wieder herrisch und etwas grob und sehe es gern, daß man mich etwas lobt. Vielleicht würde ich besser in die Biedermeierzeit passen oder in die Zeit der Hanse. Aber ich lebe ja nun einmal heute und habe mich mit meiner Zeit auseinanderzusetzen. – Ich bin nur für einen Führerstaat. Nach meiner Ansicht ist eine Demokratie Unsinn. Die Kirche ist ja auch ein Gebilde, das nur von einem regiert wird. Ich liebe Deutschland über alles und werde meine Kraft daransetzen, daß es wieder stark und machtvoll wird. Ein christlicher, national und sozial regierter Staat, von einer Person geleitet, ist mein Wunschbild, möge ich es noch erleben, einen solchen Staat zu sehen.
    *
    Winston Churchill 1874–1965
(London)
    persönliche und geheime botschaft
    an marschall stalin
    Zu meiner persönlichen Botschaft vom 27. April.
    Da es keine unterzeichnete Kapitulationsurkunde gibt, werden die vier Mächte eine Erklärung abgeben müssen, in der sie die Niederlage und bedingungslose Kapitulation Deutschlands verkünden und die oberste Gewalt in Deutschland übernehmen. Der Entwurf einer solchen Erklärung liegt der Europäischen Beratungskommission vor, und ich möchte Sie bitten, Ihrem Vertreter in der Kommission dringende Weisungen zu geben, damit der endgültige Text ohne