Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
Kinder von Europäern der arischen Völker verhungern werden, nicht nur Millionen erwachsener Männer den Tod erleiden und nicht nur Hunderttausende an Frauen und Kindern in den Städten verbrannt und zu Tode bombardiert werden dürften, ohne dass der eigentlich Schuldige, wenn auch durch humanere Mittel, seine Schuld zu büssen hat.
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Riemann
Lager Rothenstein bei Königsberg
Zwei Tage vor dem ersten Mai wurde in der Nacht der Name Riemann aufgerufen. Mein Bruder Paul und ich meldeten uns. Wir wurden von einem Posten zum Hauptgebäude geführt, von einem Major empfangen und gefragt, ob ich bis zum 1. Mai vor dem Hause zwei große Sowjetsterne aus roten Blumen nach Möglichkeit pflanzen oder auslegen könne. Ich bejahte.
Mit ca. 40–50 Mann, die ich mir am anderen Morgen aussuchen konnte, begannen wir, grüne Rasenstücke auszustechen, um damit den Vorplatz auszulegen und zwei große Sterne zu bilden. Einen bepflanzten wir mit roten Stiefmütterchen, den andern streuten wir mit rotem Ziegelmehl aus. Der Major war’s zufrieden. Mein Bruder und ich durften uns daraufhin etwas freier bewegen.
Die sowjetische Sergeantin
Tamara Astachowa *1922
Frische Nehrung
Im April 1945 stand unsere Abteilung in der Nähe der Frischen Nehrung bei Danzig. In einer Nacht hielt ich Wache. Plötzlich nahm ich schleichende Schritte hinter dem Haus wahr.
«Halt! Wer ist da?» – Es meldete sich niemand. Nach einer Weile hörte ich wieder diese vorsichtigen Schritte. – «Halt oder ich schieße!» Und hab’ in die Luft geschossen. Und da ergab sich mir ... unser lieber Starschina.
Er wollte angeblich bloß auf diese Weise meine Wachsamkeit prüfen. Ob ich auf dem Posten nicht mal eingeschlafen bin. Und in der Hand hielt er seltsamerweise ein Kochgeschirr. Wieso denn?
«Komm, Baschkirowa, qualmen wir eine», lud er mich ein. Und er erzählte mir, daß im Keller von einem benachbarten zerbombten Hauseine deutsche Familie im Versteck sitzt. Eine Frau mit fünf Kindern. Der älteste Bube sei erst 9 Jahre alt. Er habe das dem Koch von der Feldküche gesagt, damit die deutschen Kinder auch was zu essen kriegen könnten. Aber die SS-Leuten haben dem Koch die ganze Familie und seine kleinen Söhne irgendwo bei Woltschansk erschossen.
«Sie mögen kommen. Eine Kelle kochendes Wasser kriegen Sie ins Gesicht. Ich werde sie schon richtig füttern ...»
Seither brachte unser Starschina jede Nacht für die im Versteck sitzenden Deutschen was zum Essen. Illegal. Heimlich.
Michael Wieck *1928
(Lager Rothenstein bei Königsberg)
Wir haben die ersten Toten in unserem Keller, die wir beim morgendlichen Ausgang auf den Leichenhaufen schleppen. Manche sind kurz vor dem Sterben. Einige resignieren und holen sich auch kein Essen mehr. Sofort nehmen andere ihre Gefäße. Mein Mut sinkt von Tag zu Tag.
Einmal fragt ein Russe, ob jemand Kunstmaler sei. Sofort melde ich mich und werde zu einem Offizier geführt. Er lächelt skeptisch und gibt mir Buntstifte und Papier. Ich zeichne sein Profil, so gut ich kann. Es ist sogar etwas ähnlich, aber ihn überzeugt es nicht. Bevor ich wieder in den Keller zurückgeschickt werde, gibt er mir noch ein Stück Brot. Wenigstens etwas. [...]
Jeden Morgen ist mindestens einer gestorben, und alle freuen sich über den zusätzlichen Platz. Tatsächlich wird es nach und nach etwas geräumiger, aber aufeinander liegen wir immer noch.
Der Arzt
Lager Rothenstein
Hans Graf von Lehndorff 1910–1987
bei Königsberg
Am Morgen werden die Toten herausgesucht. Mehrere sind auf dem Gang gestorben, einer sitzt tot auf dem Eimer. Die übrigen lassen sich nicht so leicht herausfinden, da auch die Lebenden nur sehr langsam reagieren, wenn man sie anspricht oder anstößt. Später liegen im Waschraum über meterhoch aufgestapelt sechsunddreißig Tote, alles Männer. Die Frauen halten länger aus. Viele sind fast nackt. Ihre Kleider haben sich schon andere angeeignet zum Schutz gegen die Kälte. Papiere haben die wenigsten noch. Aber auch die werden kaum lange erhalten bleiben, und später wird keiner mehr sagen können, wer eigentlich hier gestorben ist. [...]
Den ganzen Tag über werden neue Kranke herangeschafft, und fortwährend gibt es Reibereien mit den Russen, die mit nichts zufriedensind. Immer neue Kommissionen erscheinen, auch uniformierte Frauen sind dabei. Wir wissen schon nicht mehr, wo wir uns verstecken sollen.
Da wir längst nicht alle Kranken auf der einen Etage unterbringen können, werden etwa hundert
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