Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
Vom Netzwerk:
Männer ganz oben auf den Dachboden gelegt, eine fürchterliche Quälerei für alle Beteiligten. Es zieht und regnet durch die offenen Fenster und Löcher im Dach. Als es schon wieder fast dunkel geworden ist, bin ich noch einmal dort oben, finde sie alle kreuz und quer durcheinanderliegend, höre hier und da leises sinnloses Sprechen, spüre überall verlöschende Lebensgeister. Einige von ihnen sind sicher tot. Denen ziehe ich die Mäntel und Jacken aus und decke andere damit zu.
    Von Zeit zu Zeit ist es mir so, als fragte mich eine Stimme: «Was tust du hier eigentlich?» Ja, was tue ich hier? Was tun wir alle? Aber es hat keinen Zweck, darauf noch eine Antwort zu suchen. Dies ist kein Tun mehr im eigentlichen Sinn, sondern nur dann und wann noch ein Dürfen. Und als ich mich beim Verlassen des Bodenraums in der Tür noch einmal umwende, heben sich mir wie von selbst die Arme zum Segen über diese Todgeweihten.
    Im weiteren Verlauf der Nacht kommt beim Schein einer Kerze unter meiner und Erikas Assistenz der erste der Zwillinge zur Welt. – Das Leben geht weiter, wie es so sinnig heißt.
    Adolf Hitler 1889–1945
Berlin/Führerbunker
    Politisches Testament
    Nach einem sechsjährigen Kampf, der einst in die Geschichte trotz aller Rückschläge als ruhmvollste und tapferste Bekundung des Lebenswillens eines Volkes eingehen wird, kann ich mich nicht von der Stadt trennen, die die Hauptstadt dieses Reiches ist. Da die Kräfte zu gering sind, um dem feindlichen Ansturm gerade an dieser Stelle noch länger standzuhalten, der eigene Widerstand aber durch ebenso verblendete wie charakterlose Subjekte allmählich entwertet wird, möchte ich mein Schicksal mit jenem teilen, das Millionen anderer auch auf sich genommen haben, indem ich in dieser Stadt bleibe. Ausserdem will ich nicht Feinden in die Hände fallen, die zur Erlustigung ihrer verhetzten Massen ein neues, von Juden arrangiertes Schauspiel benötigen.
    *
    Der Erzpriester Paul Peikert *1884
Breslau
    Der Anblick, der sich mir morgens in der Redemptoristenkirche bot, war erschütternd. Die Südwand des Schiffes und des Presbyteriums war herausgerissen; desgleichen sämtliche Fenster und Türen; das Dach war schwer beschädigt; die Altäre waren zum Teil umgeworfen, vor allem der Hochaltar. Nur das Bild der Mutter der immerwährenden Hilfe stand unversehrt an seiner Stelle. [...] Mit Ordinariatsrat Dr. Braun machten wir uns daran, das Allerheiligste aus dem Tabernakel des umgestürzten Hochaltars zu bergen. Es war nicht leicht, über die Trümmer zum Hochaltar zu gelangen, und der Tabernakel war selbst infolge des Druckes schwer aufzuschließen. Das Allerheiligste konnte nur mit größter Mühe aus dem verbogenen Tabernakel herausgenommen werden, und ich trug es in die Hauskapelle des Klosters und zelebrierte darauf die heilige Messe.
    Der Dramaturg Hugo Hartung 1902–1972
(Breslau)
    In der letzten Nacht mußte ich im Gefechtsstand Berichte aufnehmen und konnte mich erst gegen vier Uhr morgens im Geschäftszimmer ein wenig hinlegen. Aber an Schlafen war nicht zu denken, weil das schrille Schreien eines Verwundeten bis in den Tag hinein nicht aufhörte.
    Der Postbeamte
    Wilhelm Bodenstedt 1894–1961
Breslau
    Wieder eine böse Nacht vorüber, und trotzdem geht das Leben weiter. Kinder rollen schon morgens mit ihren Rollern über Schutt und Steine in den Straßen und Frauen fahren über Berg und Tal in den Straßen mit den Kinderwagen spazieren, aber alle wissen genau, wenn die heulenden Granaten mal in ihrer Nähe platzen könnten, sie verschwinden rechtzeitig in den verfallenen Hauseingängen. – Hurra! Vom Weiberle ist ein Brief da, vom 10.4., der auf Umwegen über eine Einsatzkompanie mich erreicht hat. – Leider ohne Härchen. Ich habe mich sehr, sehr darüber gefreut. Den Brief habe ich heute noch beantwortet. – Nun gute Nacht, mein Weiberle, schlafe gut und träume von mir.
    Der Schüler Horst G.W. Gleiss
Breslau
    Die noch freien Kellerräume unseres Hauses werden am 29. April mit Waffen-SS belegt. [...] Sie kapseln sich ab und statten die von ihnen belegten Keller wie Clubräume aus. Sie bringen Berge wertvoller Teppiche mit, hängen sie rund um die von ihnen beschlagnahmten Privatkellerund schlafen in blütenweiß überzogenen Federbetten – und dies kaum eine Nacht allein.
    Sie bringen eine kleine Schar flotter, gut gewachsener Mädchen mit, und da deren Zahl nicht ganz ausreicht, allen Männern genußvolle Nächte zu bereiten, findet während der Nacht

Weitere Kostenlose Bücher