Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
den zierlichen beweglichen Ohren wittern oft weit in die Landschaft; die alte Haltung der Steppentiere, sie trinken die Lüfte in sich ein. Oft lausche ich dem Pulsschlag der Kreatur, um das furchtbare Geschehen zu vergessen.
Reich ist der Tag an Arbeit, doch die Arbeit läßt uns zuweilen das Los unseres Landes vergessen. Ob wir aber bleiben können? Wer weiß es? Wir sind dankbar für jeden Tag, noch sind wir frei!
Clara Falckenthal *1926
bei Königswalde (Warthe)
Heute wollten sich die Russen der Landsberger Kommandantur ihren Braten für den 1. Mai holen. Sie hatten sich extra das letzte Stück Jungvieh dafür gelassen, aber sie kamen vergebens. In der Nacht hatten es sich die Banden geholt. Wir haben nun nur noch drei Fohlen, drei Pferde und vier Katzen.
Unsere Färse hat am 27. mit Kalben begonnen. Das arme Tier mußte sich bis zum nächsten Mittag herumquälen, dann mußten wir es doch abstechen. Wir konnten ihm nicht mehr helfen, denn das Kalb war abgestorben, es war ein Doppelender von ca. 60–65 kg. Das Fleisch haben wir an 117 Personen aufteilen müssen, an alle, die jetzt auf der Bergkolonie wohnen. Wir haben nur eine Keule behalten.
*
Max Beckmann 1884–1950
Amsterdam
S. Gespenst fertig gemacht. Frommel Portrait angelegt. Nachmittag wieder Peky und Abend. Zuviel gearbeitet. – Man kämpft in der Potsdamer Straße. Mussolini tot.
Gießt Schmeichelei auf Eure Seelenwunden
An Schmeichelei wird alle Welt gesunden.
Der Literaturagent Barthold Fles 1902–1989
New York
An Heinrich Mann
Lieber Herr Mann:
[...] Was nun Untertan betrifft, wie gefällt Ihnen der neue Titel: Little Superman? Nicht perfekt, aber auch nicht schlecht; entspricht dem Sinn des Buches so ziemlich. Dieses Buch wird sicher im Winter erscheinen. [...]
Wie immer, Ihr, Barthold Fles
Thomas Mann 1875–1955
Pacific Palisades
Fließend geschrieben am Kapitel. Gegangen. Nach Tische die Zeitung über Mussolinis klägliches Ende. Ob Hitler noch lebt oder nicht ist völlig gleichgültig geworden. Himmler, in Dänemark oder Lübeck, der einzige, der unbedingte Übergabe aussprechen kann und wohl noch hofft, dabei sein Leben zu retten. Der elende Ribbentrop soll von deutschen «Partisanen» gefangen sein. In München noch Kämpfe mit Snipern. Gehäufte Selbstmorde unter den Nazi-Bonzen: Die oberste B.D.M.-Führerin, General von Rang. – Zum Thee zwei Schweizer, Korrespondent der N.Z.Z. und Schweizer Consul. Über den amerikanisch-russischen Wettstreit um den Wiederaufbau Deutschlands, der bevorsteht. – Abends in Busch’s Memoiren. – Erste Ausgabe einer neuen Frankfurter Zeitung mit dem Bonner Brief auf der 2. Seite.
Wilhelm Hausenstein 1882–1957
Tutzing
Diese Nacht, die immerhin kritisch war, leidlich durchschlafen, hin und wieder durch heftige Detonationen geweckt. Die Detonationen kamen zum Teil, so wird mir versichert, von Sprengungen her, die deutsches Militär in der Untergangs-Phrenesie noch besorgen zu müssen meinte. Es ist schlüssig, daß in einem Bereich, in dem zwölf, fast dreizehn Jahre ein Agent des Teufels regiert hat, noch das Letzte ruiniert wird: die Bilanz des Teufels ist Nichts . Es würde mit der Monstrosität des verendenden Systems zusammenstimmen, wenn die Autobahnen nur gebaut worden wären, um schließlich zerstört zu werden.
Der Krieg scheint für unsere Gegend beendet zu sein; sie ist unversehrt. Heute Mittag wurden im Dorf die weißen Fahnen ausgesteckt. Die Verhandlungen um die Übergabe an den Occupanten scheinen sehr rasch verlaufen zu sein, wie sich’s verstand.
Heute früh drei ungarische Juden aus dem Dachauer Lager bettelnd an der Tür: unbeschreiblich elend, Figuren der letzten Misere, dabei höflich; das Menschliche, weit davon entfernt, erdrückt zu sein, war vernehmlicher als bei dem Gros der Leute, die man hier in den letzten Jahren in Freiheit hat herumlaufen sehen. Die Bettler nahmen das Gebotene (Käsebrote und Bier) mit, um es denen unter den Ihrigen mitzuteilen, denen es noch schlechter ging.
Adolf Hitler 1889–1945
Berlin/Führerbunker
Politisches Testament
Ich habe aber auch keinen Zweifel darüber gelassen, dass, wenn die Völker Europas wieder nur als Aktienpakete dieser internationalen Geld-und Finanzverschwörer angesehen werden, dann auch jenes Volk mit zur Verantwortung gezogen werden wird, das der eigentlich Schuldige an diesem mörderischen Ringen ist: Das Judentum! Ich habe weiter keinen darüber im Unklaren gelassen, dass dieses Mal nicht nur Millionen
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