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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Kommandanten Rulenkow zur Plünderung freigegeben. In den Häusern spielten sich die entsetzlichsten Schreckensszenen ab; überall erscholl das Geschrei der vergewaltigten Frauen. Männer, die ihren Frauen oder Töchtern zu Hilfe kamen, wurden erschossen. Gar viele Einwohner aus allen Kreisen zogen es vor, freiwillig aus dem Leben zu scheiden, vergifteten sich, hängten sich auf oder verübten in den an die Stadt angrenzenden Seen Selbstmord.
    Erst später wurde festgestellt, daß in diesen Tagen nicht weniger als 681 Menschen freiwillig aus der Welt gegangen waren. [...]
    Am 30. April begannen die Brandstiftungen. Nach einigen Tagen war das alte Residenz schloß völlig vernichtet. Der Schloßturm blieb schief über den Trümmern hängen. Dazu wurden das alte Regierungsgebäude, das alte Palais, das Theater, zwei von den Kavaliershäusern in der Nähe des Schlosses und etwa 40 Häuser, hauptsächlich beim Bahnhof, in der Strelitzer Straße und am Markt, ein Opfer der Flammen. Jegliches Löschen der Brände wurde von den Sowjets verhindert. Schon zwei Tage zuvor war das 4 km entfernt liegende, eingemeindete Strelitz-Alt in der Innenstadt durch Brände fast völlig vernichtet worden.
    Der amerikanische Geistliche
    Francis Sampson
Neubrandenburg
    Am 29. April besuchte uns ein russischer General, der unsere Rüstung lobte und uns sagte, die Russen hätten nicht durchhalten können, wenn die Amerikaner nicht ihre Armee ausgerüstet hätten. Fast alle Geräte, die wir bei den Russen sahen, stammten aus Amerika. Auch die russischen Flugzeuge, die herumflogen, waren Bell-Airacobras. Danach besuchte uns ein Kommissar und sagte unseren baldigen Transport zu den amerikanischen Truppen zu.
    Die russischen Soldaten erhielten täglich ein Ration Wodka und hatten auch noch deutschen Schnaps gefunden, so daß die meisten ständig betrunken waren. In diesem Zustand raubten einige von ihnen den Amerikanern ihre Wertgegenstände, vor allem die Armbanduhren, und zwangen sie, ihnen Latrinen zu graben. Ich suchte den russischen Obersten, dem das Lager unterstand, auf, aber auch er war betrunken. Wir fühlten uns allmählich unter den Russen sehr viel weniger sicher, als wir uns unter den Deutschen gefühlt hatten, und wußten nicht recht, was wir da tun sollten. Ein alter französischer Pfarrer, der als Gefangener unter uns war, bat mich, am Nachmittag mit ihm in die Stadt zu gehen. Er wollte sehen, wie es den deutschen Geistlichen und den Deutschen, dienicht hatten fliehen können, erging. Ich bewunderte den Mut des alten Mannes. Obwohl wir aufs Schlimmste gefaßt waren, erschütterte uns das, was wir sahen, in einem Maße, das mit Worten nicht zu fassen ist. Wenige Meter von unserem Lager entfernt, im Wald, stießen wir schon auf einen Anblick, den ich bis an das Ende meiner Tage nicht vergessen werde. Mehrere deutsche Mädchen waren hier geschändet und getötet worden. Und einige hatte man an den Füßen aufgehängt und ihre Leiber aufgeschlitzt. Kameraden hatten mir vorher schon ähnliches berichtet, aber ich hatte es nicht glauben wollen. Wir hielten an und sprachen einige Gebete.
    Als wir dort ankamen, wo ein paar Tage vorher noch die schöne kleine Stadt Neubrandenburg gestanden hatte, war mir, als blickte ich auf das Ende der Welt und auf das Jüngste Gericht. Die meisten Häuser brannten noch, und in den Straßen häuften sich die Trümmer herabgestürzter Mauern. Eine große Gruppe Deutscher, Männer, Frauen und Kinder, räumte die Hauptstraße unter der Bewachung eines russischen Soldaten auf. Leichen, die in den Straßen lagen, wurden, soweit sie den Verkehr nicht behinderten, nicht beachtet. Über einigen Straßen lag ein unerträglicher Geruch verbrannten Fleisches. Der alte Priester sprach kein Wort, nur dann und wann, wenn wir auf neue Schrecken stießen, hörte ich ihn seufzen. Wenn er seinen Mantel raffte und bei jedem Toten anhielt, um ein kurzes Gebet zu sprechen, erschien er mir wie ein Symbol der Kirche in einer zerstörten Welt.
    Schließlich kamen wir zu einem deutschen Pfarrhaus und gingen hinein. Das Haus war zum Teil durch Feuer zerstört und an vielen Stellen zusammengefallen. Die beiden Schwestern des Pfarrers saßen auf den kahlen Treppenstufen. Der Pfarrer selbst und sein Vater hockten daneben, und ihre fahlen Gesichter verrieten die äußerste Erschütterung, die Menschen überfallen kann. Drei Frauen kauerten auf einem Sofa. Eine der Schwestern sprach mit dem französischen Priester und sagte ihm, daß

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