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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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eine Horde Russen die drei Frauen geschändet und den Pfarrer und seinen Vater gezwungen hätte, dabei zuzusehen. Der französische Priester fragte sie, ob er irgend etwas für sie tun könne. Aber sie schüttelten den Kopf voller Hoffnungslosigkeit. Und ich sah, daß sie nahe daran waren, den Verstand zu verlieren. Sie befanden sich in einem Zustand, der schon jenseits der Angst lag, und ein Ausdruck von Mitgefühl erreichte sie gar nicht mehr. Ich war froh, als wir das Lager wieder erreichten, denn ich fürchtete, daß der alte französische Priester krank werden würde.
    *
    Der Offizier der Waffen-SS
    Léon Degrelle 1906 –1994
Mecklenburg
    Am 30. April 1945 hörte ich um acht Uhr morgens über Radio London die verblüffende Nachricht: «Himmler verhandelt über einen Waffenstillstand!» Die Verhandlungen fanden, wie es schien, in der Umgebung von Lübeck statt.
    Das faschistische Italien war verschwunden, Mussolini mit fürchterlichem Sadismus ermordet worden. Seine Leiche hing mit den Füßen nach oben, wie ein totes Stück Vieh, mitten in Mailand.
    Die Landstraße nach Lübeck gab ein genaues Bild der Lage am 30. April 1945.
    Bis Schwerin wälzte sich der Strom der Zivilisten und der Armeen, die von Osten kamen, gewaltig und lärmend über die ganze Breite der Straße.
    In Schwerin flossen die Menschenströme zusammen.
    Das herzogliche Schloß bewahrte allein hinter schiefergrauen Wassergräben die Gelassenheit der Steine, die Menschen und Jahrhunderte vorübergehen sahen. Die übrige Stadt ertrank unter den riesigen Menschenmengen aus Osten und Westen.
    Dort wurde für uns das unmittelbar bevorstehende Ende des Krieges in Deutschland zu einer packenden Wirklichkeit. Ein Menschenstrom wälzte sich auf der Flucht vor den sowjetischen Panzern von Waren her. Ein zweiter Menschenstrom kam von der Elbe her und floh vor den Engländern. Beide alliierten Armeen näherten sich einander wie zwei sich schließende Türflügel. [...]
    Britische Flugzeuge stürzten sich auf die Kolonnen, aus denen sich kurz darauf zehn oder fünfzehn dichte Rauchwolken erhoben. Benzintanks brannten. Reifen brannten. Gepäck brannte.
    Auf fünfhundert Meter, ja auf tausend Meter sah man nur einen einzigen, fast undurchsichtigen Brandherd, der von Explosionen unterbrochen wurde.
    Von den zerstörten Karren fielen zerlumpte Kleider fliehender Frauen herunter. Endlose Kolonnen waren in Unordnung geraten. Mein Volkswagen und der meines Stabschefs kamen nur mit größter Mühe durch Trümmer und Brände. Alle fünf Minuten mußten wir in den Straßengraben fahren, während die Salven der Tiefflieger knatternd über uns hin- wegfuhren.
    Das traurigste Bild boten die Verwundeten. Die Lazarette der Umgebung wurden in Eile geräumt. Aber es gab keine Sanitätskraftwagen mehr. Hunderte von armen Jungens, deren Arme oder Oberkörper in

Gips lagen, wurden mit ihren Verbänden auf die Landstraße geschickt. Viele humpelten auf Krücken.
    So zogen sie zur Ostsee, zu Fuß, unter feindlichem Feuer, durch brennende Lastwagen und inmitten unvorstellbarer Menschenmengen.
    Erich Mende 1916–1998
Warnemünde
    Als wir schließlich am 30. April nach Rostock wollten, hatte uns ein sowjetischer Panzervorstoß, der von Südosten in Richtung Rostock vorging, bereits überholt. Die Panzer waren in Rostock eingedrungen! Der Weg von Sanitz in Richtung Rostock war für uns gesperrt. Es gelang uns, mit unseren Lastkraftwagen, auf denen die Infanteristen aufgesessen waren, mit unseren Kübelwagen und mit den Fahrradeinheiten an Rostock vorbeizukommen. Die Fahrradeinheiten versuchten, unbemerkt von den sowjetischen Panzern südlich Rostock zu entkommen. Sie warteten jeweils die Durchfahrt einer Panzerkolonne ab, um dann, bis zur nächsten wartend, die Straße, die nach Rostock führte, zu überschreiten und schließlich sich in Richtung Bad Doberan zu bewegen. Unsere Kübelwagen und Lastkraftwagen konnten das natürlich nicht. Wir wichen daher, an Rostock vorbeifahrend, aus und erreichten die Hafenausfahrt beiderseits von Warnemünde. Hier liefen gerade die noch in dem Hafen von Warnemünde ankernden Flüchtlingsschiffe aus. Von der Eisenbahnfähre in Richtung Gedser gab es ständig einen Pendelverkehr aus Richtung Rostock in Richtung Norden. Ein Schiff nach dem anderen hatte, selbstverständlich angefüllt mit Flüchtlingen und Zivilbevölkerung aus Rostock oder Warnemünde, die Vorfahrt. Wir waren genötigt zu warten, bis die gesamten Schiffe in Richtung Norden den

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