Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
heute gesprochen haben, und niemand, ob Mann oder Frau, war von anderem bewegt als von diesen Enthüllungen planmäßig-verbrecherischer Greuel, die im Machtkreis des Deutschen Reiches der letzten zwölf Jahre ihre höllischen Heimstätten gehabt. «Wenn das alles wahr ist ...», so versuchten einige noch einen Schatten von Hoffnung zu erraffen; aber in Wahrheit zweifelten sie nicht mehr, und ihren zögernden Vorbehalt überwog das unausgesprochene: «Dann ... Weh’ über uns!»
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Die Schülerin Jutta
Verchen am Kummerower See
Es ist gar nicht zu beschreiben, was für ein Geschrei auf den Straßen, in den Wohnungen herrschte. Mein Vater versteckte mich auf einem Heuboden, holte mich nach kurzer Zeit aber wieder herunter, weil er meinte, es sei auch dort gefährlich. Und wirklich: Zehn Minuten später kletterten die Russen hinauf und stießen auf der Suche nach Frauen mit den Bajonetten in das Heu. Es waren die Truppen, die wochenlang im Morast an der Oder gelegen hatten, jetzt stürzten sie sich auf uns wie wilde Tiere und reagierten sich ab, viele waren betrunken. Ich habe unbeschreibliche Ängste ausgestanden und selbst auch Schreckliches erlebt. Meine Eltern konnten mich nicht schützen.
Irma von Blanck-Heise *1916
Ahrensberg
Als es etwas ruhiger wurde, kehrten wir in den Stall zurück. Dort sah es wüst aus. Die Russen hatten unsere Koffer und Taschen, auch meinen Rucksack aufgeschlitzt und den Inhalt auf den Schafmist gekippt; alles, was ihnen wertvoll erschien, hatten sie eingesteckt. Zwischen den Resten entdeckte ich noch meine wertvolle Brillantbrosche, eine alte von Stiefeln zerspaltene Gemme, deren Goldrand ebenfalls verschwunden war, und den grünen Anzug meines Mannes. [...]
Inzwischen versuchten die Holländer, sich bei anderen Russen unter dem Ruf «Hollandski, Hollandski, Freunde!» anzubiedern. Die Russen verstanden aber nichts und entgegneten nur «Hollandia nix gut – Uri, Uri!» und nahmen ihnen alle Uhren und sonstige Wertsachen ab.
Inzwischen kam ein völlig abgerissen erscheinender, seit langem unrasierter Mann in unseren Stall. Er erwies sich als entlassener polnischer Strafgefangener, der leidlich Deutsch sprach. Obwohl alle anderen vor ihm zurückschreckten, kam ich aus irgendeiner inneren Eingebung heraus dem Mann entgegen, erklärte ihm, daß er bei uns bleiben könnte, stattete ihn mit dem Anzug meines Mannes aus und gab ihm aus unserem großen Kochtopf, der stets mit schmackhaftem Haferbrei auf dem Feuer stand, zu essen, soviel er wollte. Er blieb bei uns und sollte in den nächsten Stunden unser bester Schutz vor den immer wieder in den Stall eindringenden Russen werden.
Der Musiker Erich Zimmermann 1900–1987
(Heubude)
Omi Paula mußte jeden Tag einen Eimer Wasser aus dem ersten Gehöft an der Rieselfeldchaussee von der Stallpumpe heranschleppen. Auf dem Gehöft fand sie noch einiges Geschirr für uns und verschiedene Lebensmittelreste. Das Wertvollste war ein sehr großes und fettes Rinderherz,
das in einem Pökelfaß lag. Als sie es auf unserm eisernen Ofen gekocht hatte, haben wir es alle mit Hochgenuß verzehrt. Wahrscheinlich war das Herzmuskelfleisch und das viele, pöklig-ranzige Fett die ideale Nahrung für unsern ausgehungerten Zustand. Der tägliche Gang nach Wasser und das Herumstreifen in den verlassenen Gehöften waren immer angstvolle Unternehmungen für Omi Paula, von denen ich sie stets mit großer Sorge zurückerwartete. Wenn auch die ganze Gegend völlig menschenleer war, so streiften doch ab und zu russische Soldaten umher. Einmal traf sie einen russischen Offizier, der sie fragte, was sie da mache. Als sie ihm zeigte, was sie geholt hatte, ließ er sie laufen, sie sah ja auch jammervoll genug aus. Überhaupt boten wir alle auf unserm Elendslager einen so kläglichen Anblick, daß es kein Wunder war, wenn die Russen uns in Ruhe ließen, sobald sie uns aufgestöbert hatten.
Ella Kossol
bei Stolp
In einer Nacht kam ein alter, gut und gemütlich aussehender Russe in Begleitung eines ganz jungen Bürschchens in unser Stübchen, hieß uns liegenbleiben und wollte sich anscheinend nur mit uns unterhalten. Er erzählte uns, soweit wir uns verständigen konnten, daß er auch Kinder in dem Alter unserer Kleinen zu Hause hatte und diese auch schon viele Jahre nicht mehr gesehen hatte. Traurig den Kindern zunickend, verließen die beiden uns dann bald.
Der sowjetische Oberleutnant Andrej Filin *1918
Ostpreußen
An einem anderen Tag waren wir wieder auf dem
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