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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Ostarbeiterin
    Soja Romanowa *1934
Gut Alt-Neheim bei Greifswald
    Der Tag am 30. April 1945, als wir befreit wurden, ist nicht aus meinem Gedächtnis zu löschen. Er bleibt für mich für das ganze Leben der herrlichste Feiertag. So viel Böses mußte ich in den Monaten der Unfreiheit erleiden. Als Kind durfte ich nicht zu Landarbeiten herangezogen werden. Tagelang mußte ich in einer Baracke mit dem achtjährigen ukrainischen Jungen Ostap sitzen, der wenig Russisch verstand und stets weinte, wenn seine Mutter weg war. Ich gab mir viel Mühe, ihn jedesmal zu trösten.
    Aber das waren Kleinigkeiten im Vergleich zu den Schikanen, mit denen mich ein Hitlerjunge, Erich, quälte. Dieser rothaarige Bengel, lang und schmächtig, der vier Jahre älter als ich war, war mehr als ein Sadist. Er wohnte in einem alleinstehenden Haus mit seiner Mutter, die wie auch andere deutschen Frauen irgendwelche Arbeit im Haus des Gutsbesitzers verrichtet hatte. Jeden Tag lauerte er mir irgendwo an einer abgelegenen Ecke auf und prügelte mich erbarmungslos, manchmal mit einem dicken Stock. Er würgte mich und redete dazu: «Du wilde Steppenwölfin, ich mache es dir so, daß kein Scheusal aus deiner V...e herauskriecht.»Ich konnte gut Deutsch, den Kindern fällt ja die Sprache leicht, doch dieses Wort war mir unbekannt.
    Zwei Dinge haben meine Kindheit im Krieg total vergiftet: die Bombenangriffe – bei den Erinnerungen an sie wird mir bis heute angst und bange – und der Hitlerjunge Erich, er sei verflucht.
    Die Ostarbeiterin
    Anna Popowskaja *1926
Gärzig bei Dessau
    In dem kleinen Dorf bekamen wir keine Befreier zu Gesicht. Auf einmal erklärte uns der Bauer, daß wir ab sofort alle frei seien und am nächsten Tag bei einem Sammelpunkt erscheinen müßten. Wer wolle, könne auch ein Fahrrad nehmen. In einem Laden kauften wir für gespartes Geld (wir verdienten doch 4 RM im Monat) getragene Kleidung. Einiges davon habe ich noch 1950 nach dem Abschluß meines Studiums getragen. So wurden wir an die Russen repatriiert. Man schickte uns mit einem Güterzug, der demontierte Industrieanlagen nach dem Donezbecken zu transportieren hatte, in unsere Heimat. Wir waren 1943 zu fünft aus unserem Dorf vertrieben worden, zu viert kehrten wir heim. Ein Mädchen hatte einen Polen geheiratet und war in Polen geblieben. Einige Monate nach der Rückkehr dachten wir schon wieder daran, nach Deutschland zurückzukehren. Bei unserem Bauern hatte man uns wenigstens reichlich gefüttert, und in der Heimat mußten wir als Sieger noch viele Jahre am Hungertuch nagen.
    Adolf Hitler 1889–1945
Berlin/Führerbunker
    Politisches Testament
    Ich stosse vor meinem Tode den früheren Reichsmarschall Hermann G ö r i n g aus der Partei aus und entziehe ihm alle Rechte, die sich aus dem Erlass vom 29. Juni 1941 sowie aus meiner Reichstagserklärung vom 1. September 1939 ergeben könnten. Ich ernenne an Stelle dessen den Grossadmiral D ö n i t z zum Reichspräsidenten und Obersten Befehlshaber der Wehrmacht.
    *
    Der sowjetische Bomberpilot
    Dmitrij B. *1918
Berlin
    Dreimal sind wir gestartet, um Berlin zu bombardieren.
    Insbesondere der letzte Einsatz Ende April 1945 blieb für mich unvergeßlich. Unser Ziel war der Flugplatz Tempelhof, wo angeblich nochviele Jäger und Jagdbomber der deutschen Luftwaffe in Hallen einsatzbereit standen. Der wolkenlose Himmel, herrliches Wetter, grüne Felder und blühende Gärten unten. Sogar aus einer Höhe von 5000 m ist jedes Häuschen zu sehen.
    Ab Küstrin sollten uns eigene Jäger Deckung geben. Wir sahen sie aber nicht. Na gut, der Krieg war praktisch schon zu Ende, die feindliche Luftwaffe lahmgelegt. Wenn ein verirrter deutscher Jäger auftauchte, dann würden ihn unsere Heckschützen sicher abschießen. Also flogen wir weiter ohne Deckung. Alles umher in dichten schwarzen Rauchschwaden. Weder Himmel noch Erde waren zu erkennen. Über Berlin ein echtes Inferno. Es brannte an allen Ecken, und Rauch stieg zum Himmel wie aus Tausenden von Schornsteinen.
    Normalerweise warfen wir die Bomben ab 4000m, diesmal gingen wir auf 1500 m runter, weil wir das Ziel nicht sehen konnten. Nur manchmal tauchte rechts oder links ein Flügel einer anderen Maschine auf, huschte vorüber, dann wieder nur schwarze Wolken und eine unglaubliche Kakophonie in den Kopfhörern. Endlich waren wir am Ziel und warfen unsere Bombenlast ab.
    Als wir wieder an Höhe gewonnen hatten, sahen wir plötzlich, daß ein breiter Streifen des deutschen Bodens unter uns

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