Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
von der Havel her bis an die Oder hin in Flammen und Rauch stand.
Der Geschäftsmann Paul S.
Lienewitz bei Potsdam
Lebendiges Treiben auf unserem Hof. Wir saßen in der Küche und wärmten uns. Da kamen einige Russen und fragten, ob sie kochen könnten. Allgemeines «Ja». Dann fing es an: Klötze von Margarine, ein Eimer Schmalz, Fleisch und was man sich sonst noch denken kann. Mittag gab es Leber mit Zwiebeln. Wir mußten mitessen, soviel wir konnten. Abends Nudelsuppe mit einem Klumpen Rindfleisch, Brot in Hülle und Fülle und gebratenen Fisch (mit Handgranaten geangelt), im Fett schwimmend.
Jetzt, wo ich schreibe, sausen Infanteriekugeln am Fenster vorbei. Das stört alte Frontschweine nicht. Wir leben wie die Made im Speck. Der Kommandant hat extra gesagt, wir sollen essen, was und wieviel wir wollen. Und das tun wir auch.
Es will dunkel werden. Auf einmal setzt die Stalinorgel ein. Ihr kennt dieses Geschütz nicht. Es ist einfach nicht zu beschreiben. Ein Urtier mit tausend Kehlen. Ein entsetzliches Gebrüll. Die Orgel sendet Tod und Verderben. Und ein paar wahnsinnige SS-Leute am Leipziger Autobahndreieck halten dort eine Stellung. [...] Gestern hatten sie 182 Tote,72 Verwundete, und 35 wollten zu den Russen übergehen. Da sind 15 von den eigenen Leuten von hinten erschossen worden. Morgen ist der 1. Mai.
Euer Papi
Hermann Kasack 1896–1966
Potsdam
Als ich mich am Montag vormittag mit Anne in unserem Vorderkeller befand, um festzustellen, daß meine Bücherkisten und die Manuskriptpakete des Verlages zwar vielfach aufgerissen, aber im allgemeinen unangetastet geblieben waren, wurden wir heraufgeholt, weil inzwischen zwei Russen gekommen waren. [...] Der eine von ihnen, ein Gardemajor Jermakow, sprach etwas deutsch. Er hatte bei seinem Eintreten einige bedauernde Bemerkungen über den Zustand der Wohnung gemacht, aber hinzugefügt, daß die Deutschen in Rußland nicht anders, ja sogar schlimmer gehaust hätten. Als Maria in dem Sinne widersprach, daß wohl nur einige der deutschen Soldaten sich so aufgeführt hätten, erklärte er hart: «Nein, alle.» Er fügte hinzu, daß die russische Bevölkerung in den Kriegsgebieten ärgere Grausamkeiten zu erdulden gehabt hätte. «Im übrigen», hatte er nicht ohne Absicht erklärt, «pflegen doch sonst die Deutschen die Ordnung zu lieben.» Wir verstanden natürlich diesen Wink. Er war von stämmigem Wuchs, hatte ein kluges, sprechendes Gesicht. Wir erfuhren erst am Nachmittag, daß er der stellvertretende Stadtkommandant von Potsdam war.
Carl Diem 1882–1962
Berlin
Da kamen die Russen. Einer nach dem anderen betrat unser Haus mit vorgehaltener Maschinenpistole, durchsuchte es von oben nach unten «auf Waffen» und nahm mit, was ihm gefiel. Vor allen Dingen Uhren, Ringe usw. Einige Uhren wurden wir los, die anderen haben wir versteckt. Meiner ältesten Tochter, die damals 1 4 Jahre war, hatte meine Frau die Haare geschnitten und Hosen angezogen; sie lief als Junge umher und wurde nicht beachtet. Meine 12 jährige saß in der dunklen Kellerecke, eine große Puppe im Arm, und blieb auch ungeschoren. Meine Frau hielt sich auf der Straße auf und ließ sich durch keine Einladung «Komm, Frau» hineinziehen. Ich wurde regelmäßig abgetastet, der eine oder andere suchte mich einzuschüchtern, indem er mir die Pistole auf die Brust setzte. Einige schossen in den Radioapparat, zerschossen den Fernsprecher, schossen mir an der Stirn vorbei, aber sobald man ihnen keine Furcht zeigte, hielten sie sich zurück, und wahrscheinlich haben mich meine Bücher am besten verteidigt. Da mein ganzes Arbeitszimmermit Büchern ringsherum vollgestellt war, hielten sie mich für einen großen Gelehrten. Sie fragten mich nach meinem Beruf. «Professor» und «physikultura» war ihnen ein vertrauter und ehrwürdiger Begriff. Einige Worte Russisch, die die Familie vorher gelernt hatte, kamen zustatten. Unsere alte Kochfrau «Maschka», wie sie sie nannten, machte sowieso nicht viel Federlesens. Sie schob die Männer, die in die Küche drangen, handgreiflich hinaus. Ein Unteroffizier schrieb ohne mein Wissen einen Schutzschein an die Tür, daß man diesen bedeutenden Arzt nicht behelligen dürfe.
Als ich eines Tages im Garten von einer Gruppe gefragt wurde, was ich sei, zeigte ich auf das Reck und machte die Kippe vor. Da hatte ich unversehens eine Turnriege, jeder wollte es nachmachen. Jeder wollte bei uns Volleyball spielen, und schließlich erhielten wir noch einen besonderen
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