Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
kaum je aus Königsberg heraus. Am wenigsten bedroht sind ausgeglichene Naturen; auch ist für sie die Haft erträglicher.
Maxime: Was uns an inneren Fesseln mangelt, wird uns von außen auferlegt. Daher ist das Titanische in uns besonders gefährdet; Prometheus ist der größte Gefangene. Das ist einer der Gründe, aus denen heute die Gefängnisse zunehmen. Sie gehören zur Ausstattung des technischen Kollektivs wie die Klöster zur gotischen Welt. Hierzu auch der Wahnsinn als des Titanengeistes Zwangsjacke.
Draußen geht der Vorbeizug der befreiten Russen und Polen weiter, zugleich die Plünderung. Gestern hatten wir drei Franzosen bei uns,angenehme Leute, wie wir überhaupt jedem, der vorspricht, nach Möglichkeit helfen, sei es mit Nahrung, sei es durch Unterkunft. Das ist nicht nur das menschlich Gebotene, sondern zugleich der beste Riegel, der sich gegen das Geplündert-Werden vorschieben läßt.
In dieser Lage bewährt sich wieder der Vorrang der originalen Arbeit – der Bauer kann weiterschaffen und auch der Autor, nicht aber jemand, der von der Bürokratie, dem Elektrizitätswerk oder anderen Verteilern abhängig ist.
Für den Autor kommt es nicht nur darauf an, die Lage zu erfassen, sondern sie zugleich zu bändigen, sie in einen Spiegel zu bringen, in den sich auch die Schreckensbilder einfügen.
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Die Ostarbeiterin Nina Mursina *1925
Namslau
Über zwei Jahre habe ich für «Großdeutschland» gearbeitet. An diese Sklaverei will ich mich lieber nicht erinnern. Ich weinte jede Nacht und träumte von zu Hause, das ich nicht mehr hatte. Links an der Brust hatte ich ein Muttermal. Als ich noch ein Kind war, sagte mir die Mutter, daß es mir immer Glück bringen werde. Es hat mir umgekehrt nur Unglück gebracht. Ich erinnerte mich an die Worte aus einem Lied: «Wozu bin ich in diese Welt gekommen?»
Nur arbeiten durften wir, sonst nichts. Wir wurden nicht wie Menschen ernährt, unsere Verpflegung war schlecht und kalorienarm. Wir arbeiteten mit Kartoffeln und durften keine Kartoffel für uns auf dem Feuer braten. Wenn die Aufsicht nur den Rauchgeruch spürte, hetzte sie bissige Hunde auf uns. Alles war verboten. 1944 war ich 19 Jahre alt. In diesem Alter träumt man schon von der Liebe. Die deutschen Frauen, die bei uns eingesetzt waren, kamen geschminkt zur Arbeit, ihre Haare hatten sie vor dem Spiegel zurechtgemacht. Und wir als Untermenschen hatten widerliche Lumpen an und Holzschuhe, die beim Gehen laut klapperten.
Die Ostarbeiterin Anna Popowskaja *1926
Görzig bei Köthen
Im Frühjahr 1945 erkältete ich mich und bekam eine Angina. Unser Bauer ließ für mich sogar den Arzt holen, wovon wir früher nicht mal träumen konnten. Der Arzt untersuchte mich und verschrieb Medikamente. Eine Woche lang hatte ich Bettruhe. Doch alles umher war sehr unruhig, es gab laufend Bombenangriffe in den nahen Städten.
Unsere Kollegin aus Rußland, eine blonde schöne Ludmila, bekam einunerwünschtes Kind von einem polnischen Zwangsarbeiter. Der Bauer wollte sie an das Arbeitsamt abgeben, das hätte für sie den Weg nach Ravensbrück bedeutet. Bei uns arbeiteten auch echte Zigeuner aus Rumänien. Ludmila setzte ihr Kind bei ihnen aus. Als wir das erfuhren, waren wir entrüstet.
Mit der Liebe sah es bei unserem Bauern sehr streng aus. Die heimliche Liebe erkannte er nicht an. Wenn die jungen Leute es aber ernst meinten, stellte er dem Liebespaar sofort ein separates Zimmer zur Verfügung. Sonntags durften wir zum Tanz ins Dorf gehen. Bei uns war ein bildhübsches Mädchen, Lida. Ein deutscher Junge verliebte sich in sie. Als unser Bauer davon erfuhr, prügelte er sie mit einer Peitsche erbarmungslos durch. Ganz böse war er auf beide, insbesondere auf das «russische Schwein», das damit die deutsche Rasse schänden wollte. Der Junge war aber so verliebt, daß er seine Mutter bewegen konnte, Lida dem Bauer abzukaufen.
Die Ostarbeiterin Polina Moissejewa *1925
Hamburg
Beinahe drei Jahre lang habe ich in Hamburg als Ostarbeiterin verbracht. Zuerst 13 Monate in einer Marmeladefabrik im Lager, wo ich und meine Freundinnen aus der Ukraine manchmal verstohlen Beeren in den Mund stecken. Unser Aufseher war ein alter Mann und sehr gutmütig. Er drohte bei Diebstählen immer mit der Einweisung ins KZ. Tatsächlich aber drückte er ein Auge zu und drohte dann schweigend mit dem Finger.
Dann wurden wir einige Wochen zum Straßenfegen eingesetzt, bis wir in eine Fischfabrik in Hamburg-Altona aufgenommen wurden, wo wir
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