Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
Kranke und Personal täglich einen Eßlöffel Zucker.
Was uns am meisten zu schaffen macht, ist immer noch die Kälte. In der ersten Maihälfte stürmt und regnet es fast ununterbrochen, und die Temperaturen sind nachts noch um null Grad. Die Mehrzahl der Todesfälle beruht in dieser Zeit auf Auskühlung. Auch das ist eine lautlose Angelegenheit. Nirgends sieht man Zeichen eines Todeskampfes. Die Bewegungen werden von Tag zu Tag schwächer, die Menschen sprechen auch noch, wenn man sie anstößt, aber dann ist man froh, wenn es endlich so weit ist, daß man sie mit unbeschwertem Gewissen aus den Reihen ziehen und im Keller auf den Haufen legen kann, der täglich vergraben wird, denn viele warten schon auf die freiwerdenden Plätze. Warm ist es nur in den Küchen, von denen auf jeder Etage eine eingerichtet worden ist. Eiserne Herde und Ofenrohre sucht man sich auf den Kasernenhöfen zusammen. Die Rohre werden aus den Fenstern geleitet und das Loch mit Pappe abgedichtet. Verheizt wird alles, was brennt. Meistens ist der ganze Raum verqualmt, besonders auf der Windseite, aber die Wärme wiegt alles auf. Außerdem können wir jetzt das Brot genießbar machen, an dem man sich sonst die Zähne ausbeißt. Es wird in Wasser aufgeweicht und dann geröstet. Was es sonst zu essen gibt, wird unter der Hand besorgt. Als Brotaufstrich verwenden wir Vitamin-B-Extrakt aus einer großen Blechbüchse, die von der unermüdlichen Erika in geöffnetem Zustand auf einem Schutthaufen gefunden wurde. Spuren von Grieß, Mehl und Reis, die als Anschauungsmaterial gedient haben, finden Schreiner und ich auf einem Erkundungsgang in dem ehemaligen Unterrichtszimmer eines eben geräumten Kasernenblocks. Wie ein Kind freut man sich über so eine unvermutete Beute. Der Zaun, der das Lager umgibt, ist an mehreren Stellen offen, und die Lücken werden nur oberflächlich bewacht. Trotzdem denkt kaum jemand an Ausreißen. Was man aus der Stadt hört, verlockt nicht dazu, sich dorthin zu begeben. Wer sich auf der Straße sehen läßt, wird aufgegriffen und zur Arbeit oder in ein anderes Lager gebracht. Und um weiterzulaufen, ganz aus dem Stadtbereich heraus, dazu fehlt es an Mut und Kraft.
Ein paar Tage nach dem Umzug habe ich mit Giese und Erika nahe am Lagerzaun die Zwillinge begraben, die an der Kälte glücklicherweise bald gestorben sind. Giese hat einen Bibeltext gelesen und eine kurze Ansprache dazu gehalten. Anders spielt sich das Vergraben der übrigen Toten ab. Der junge Kaplan Klein, dem dies schwere Amt zudiktiert worden ist, weil er nach Ansicht der Russen offenbar Fachmann im Beerdigen sein muß, spricht nicht mit uns darüber, obgleich wir zusammen wohnen. Als ich ihn vorsichtig frage, ob er es fertigbrächte, ein geistliches Wort dabei zu sagen, wehrt er stumm ab. Einmal bleibt er zwei Tage lang wortlos liegen, und Giese muß ihn vertreten. Der hat mir den Vorgang dann in Form einer Art Beichte geschildert: Hinten auf dem Feld, in der Nähe der Umzäunung, wird ein längliches Loch gegraben, in das die Toten, fünfzig bis sechzig am Tage, hineingeworfen werden, größtenteils nackt; denn mit ihren Kleidern werden Männer zum Graben aus den Hallen gelockt. Nur so ist es möglich, ohne die polnischen Bändiger auszukommen. Da die Männer alle sehr schwach sind, dauert das Ausschachten des schweren Lehms den ganzen Tag. Und wenn einer liegenbleibt, sind die Kameraden nur schwer dazu zu bewegen, ihn nach der Arbeit zurückzutragen. Die Last des eigenen Körpers wiegt schon schwer genug, und man riskiert buchstäblich das Leben mit jeder Sonderleistung.
Michael Wieck *1928
Königsberg
Ein unbeschreibliches Freudenfest feierten die Russen, als Admiral Dönitz die Kapitulation unterzeichnete. Den ganzen Tag wurde mit allem, was schießen konnte, herumgeballert. Jeder war erleichtert, daß dieser Wahnsinn endlich ein Ende fand und nun an einen Neuanfang gedacht werden konnte. Rassenwahn und Herrschaftsanspruch hatten einen Rückschlag provoziert, wie er vernichtender nicht sein konnte. Das Fazit vom Traum eines weltbeherrschenden Großdeutschland war ein europäisches Trümmerfeld mit enorm vergrößertem Einflußbereich der Sowjetunion.
Von diesem Tag an wurde ich täglich mehr zum Ernährer meiner Eltern. Besonders Vater stand ratlos vor den neuen Lebensbedingungen, die uns alle zu Raubtieren in einer zu kleinen Wildbahn gemacht hatten. Jetzt mußte man die Sinne gebrauchen und flink handeln. Sehen, hören, kombinieren und Einfälle
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