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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Alfred Pröbstle *1922
Hela
    Gestern wurden wir über das Haff von der Artillerie beschossen. Das Feuer lag ganz in unserer Nähe. Die Dinger müssen ziemlich langsam fliegen. Man hört den Abschuß vor dem Einschlag. – Es geht die Parole, wir sollen nach Bornholm kommen. Hoffentlich wird’s was. Wir müssen unbedingt hier weg, gegebenenfalls eigenmächtig. Wir setzen unsern Leutnant unter Druck. Wir drohen ihm an, ihn gefesselt im Unterstand liegen zu lassen, wenn er nicht mit abhaut.
    Um Mitternacht sind wir fertig zum Türmen. Unser Leutnant hat nachgegeben, er macht mit. Es ist kein Befehl da, aber wir müssen weg. Im letzten Augenblick bekommt der Leutnant den regulären Befehl: «Rette sich, wer kann.» Um 4 Uhr marschieren wir zum Hafen. Ahnungslose Infanterie-Einheiten kommen uns entgegen. Sie marschieren zur Front auf der Halbinsel. Unheimliche Menschenmassen in den Straßen von Hela und im Hafengebiet. Im Hafen stehen wohl 20000 Menschen, Mann an Mann. Und dauernd die Möglichkeit von Artilleriebeschuß oder Luftangriffen. Klarstes Wetter. Wenn hier was reinhaut, die Folgen wären furchtbar.
    Wir stehen grade auf einem Landungssteg, da beginnt der Artilleriebeschuß. Immer zwölf Schuß auf einmal, Kaliber 17,5. Ein Schuß schlägt dicht neben uns ein. Aber da wir praktisch im Wasser stehen, gibt das

nur eine Wasserfontaine. Wir laufen zu einem großen Frachter, der grade Leute übernimmt. Immer wieder, wenn wir Abschüsse hören, schmeißen wir uns in den Dreck. Wenn die Dinger ankommen, liegt man wenigstens schon. Glücklicherweise gehen alle Schüsse über uns weg. Als wir an das Schiff herankommen, ist der Pott grade voll. Trotzdem wollen immer noch Leute rauf. Er muß vom Kai ablegen, damit er nicht gestürmt wird. Einer klettert noch an dem Tau, an dem das Schiff festgemacht war, hoch.
    Da kein Schiff weiter da ist, müssen wir wieder zurück. Wir stehen im Hafen herum. Da legt ein Vorpostenboot an. Wir fragen, was sie machen. Sie wollen nur ihre Wassertanks füllen.
    «Und dann geht’s nach Haus, der Krieg ist vorbei.»
    Der Leutnant und Oberdieck gehen zum Kommandanten des Bootes, einem Feldwebel zur See, und fragen, ob wir mitkommen können. «So viel, wie an Deck gehen, können mitkommen. Unter Deck darf niemand», ist die Antwort.
    Sofort sind wir an Bord. Wir sind ja nur zwanzig Mann.
    *
    Der Gefreite Eckart Oestmann *1922
Simani
    Der 8. Mai dämmert herauf. Unser Leutnant Peter Braetsch ist beim Stab zum Befehlsempfang. Um 9 Uhr tritt unser «Meldekopf» an, und Leutnant Braetsch hält eine Abschiedsrede. Eine Hälfte wird auserwählt, um mit einem Flugzeug zu entkommen. Zu ihnen gehört auch Heinz Möller, der Leidensgefährte schwerer Zeiten, der wegen seines von mir lädierten Fingers mit in die Heimat soll. Die restlichen Leute beginnen unter dem anhaltenden Gebrumm der russischen Schlachtflieger, die Arbeitsunterlagen zu vernichten. Sammler, Benzin, Papier und vieles andere gehen in Flammen auf, bis der Befehl ergeht, daß alles Gerät ordnungsgemäß an die russischen Truppen zu übergeben sei, mit denen bereits wegen der Kapitulation «verhandelt» würde. Unsere Funkempfänger wandern jedoch noch in unseren tiefen Brunnen. Luftblasen zeugen von ihrem traurigen Ende.
    Ab 14 Uhr ruhen die Waffen. Der ohnehin nicht große Lärm der Front verstummt. Eine unheimliche Ruhe breitet sich über der sonnigen Landschaft aus. Da ertönt in meinem Bunker das Telefon, das ich besetzt halte, da ich auf Anweisungen des Stabes warte. Ich nehme den Hörer ab. Es meldet sich die Zentrale mit allen angeschlossenen Dienststellen zur Durchgabe eines Befehls. Gespannt lausche ich und nehme den letztenBefehl des 2. Weltkrieges entgegen. Er lautet: «Ab sofort tritt an die Stelle des Deutschen Grußes der frühere Gruß durch Anlegen der rechten Hand an die Kopfbedeckung. Ende.» Wahrlich, das ist das Ende! Wütend werfe ich das Telefon in die Ecke.
    Gegen Abend besteigen wir den LKW, nachdem unsere russischen Hilfswilligen sich von uns verabschiedet haben. Sie gehen wahrscheinlich einer noch finstereren Zukunft als wir entgegen. Ihnen fällt der Abschied sehr schwer; es waren gute Burschen.
    Der Wagen fährt – gut verproviantiert – gen Libau. Ein eigentliches Ziel haben wir nicht. Nur etwas tun, um uns abzulenken. Wir passieren die Flakstellungen, von denen große weiße Fahnen wehen, und rollen in die Stadt ein. Die Bevölkerung zeigt sich in Wort und Gebärde feindselig, aber sie wagt angesichts der

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