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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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einem Windstoß abgekühlt wird. Ich liege hier mit meinem winterblassen Körper von der Sonne wiedergeboren wie die geplagte Erde. Die anderen sind in die Stadt gefahren, um den Tag auf dem Rathausplatz zu feiern, aber ich liege lieber hier und spüre die Freude alleine. Es ist die alte Geschichte: lieber außen vor zu sein als sich außen vor zu fühlen. In diesen Tagen trägt man eine Armbinde, oder aber man bleibt daheim. [...] Ich bleibe sitzen, während die Dunkelheit sich senkt. Ich sehe, wie der Himmelschein gleichsam unten im Wasser vergeht und der schwarzen Dunkelheit, dem ersten Stern weicht. Ich höre, wie die Vögel mit dem Singen aufhören. Ich spüre die Mücken, die Kühle, den Geruch von Waldboden. Dann erhebe ich mich und gehe nach Hause und setze mich, um dieses niederzuschreiben. Ich kann mich nicht überwinden, zu Bett zu gehen. Ich sitze vor dem offenen Fenstergenau wie gestern. Ich sage mir, daß dies die zweite Nacht ist, es gab nicht nur eine. Dies ist die zweite stille, heilige Nacht des Friedens.
    Knut Hamsun 1859–1952
Nørholm/Norwegen
    Ich bin dessen nicht würdig, mit lauter Stimme über Adolf Hitler zu sprechen, und zu sentimentaler Rührung laden sein Leben und seine Taten nicht ein. Er war Krieger, ein Krieger für die Menschheit und ein Verkünder des Evangeliums vom Recht für alle Nationen. Er war eine reformatorische Gestalt von höchstem Rang, und es war sein historisches Schicksal, in einer Zeit der beispiellosen Roheit wirken zu müssen, die ihn schließlich gefällt hat. So wird der gewöhnliche Westeuropäer Adolf Hitler sehen, und wir, seine treuen Anhänger, neigen nun unser Haupt angesichts seines Todes.
    *
    Heimito von Doderer 1896–1966
Oslo
    Außen • Ein heller, blauer, windwehender Frühlingstag. Jubel, Fahnen, Fähnchen, Flaggen, die Straßen dichtgesäumt von Menschen. [...] «Den Norwegern ist zu gratulieren.» Nach längerem Ausgang kehr’ ich nachmittags in mein Zimmer zurück. Ich mußte zu Fuß gehen – und es war der Mühe wert, denn ich habe mir hundert Zigaretten, Tabak und Zigarren geholt, was alles plötzlich pro Mann und Nase gratis zur Ausschüttung gekommen ist, Zeichen der Zeit im genauesten Verstande! – ich mußte zu Fuß gehen, einen weiten Weg, denn die Tramway war überfüllt und später ganz eingestellt, der offiziellen Sieges- und Friedensfeier wegen. Alle Glocken läuteten, zehntausende von Fähnchen winkten, die Straßen wimmelten von Menschen ... ich ging ganz unbehelligt, eine Aktentasche unterm Arm. Einmal lachte mich ein norwegischer Arbeiter freundlich an und winkte mir zu, einen Abschiedsgruß, und zum anderen Mal entschuldigte sich ein junger Herr überaus höflich, der mich im Gedränge angestoßen hatte. Das ist Europa. Das sind die Convenus, die nur bei freien Völkern – darunter versteh’ ich solche, wo der Einzelne frei leben kann – gedeihen und so tief wurzeln, daß auch die Alteration sie nicht zu lockern und auszureißen vermag. «Den Norwegern ist zu gratulieren», könnte man mit Robert Neumann sagen, der «mit fremden Federn» geschrieben hat und mir mit seiner eigenen – nach dem Erscheinen von ‹Das Geheimnis des Reichs›, Roman aus dem russischen Bürgerkrieg – «Zu Ihrem Roman ist Ihnen zu gratulieren». Innen und außen • Und doch ist es eine Qual: hier in deutscher Offiziers-Uniform herumlaufen zu müssen nämlich; eben das zu bedeuten, was man nicht meint, die Brücke zwischen innen und außen, die Brücke der Wirklichkeit, so gänzlich zerbrochen sehen zu müssen, den Gegensatz zwischen Innen und Außen – dem eigenen Innern und dem eigenen Äußeren – in einer geradezu dramatischen Sauberkeit scharf abgegrenzt zu erleben. Ich werde vielleicht bedauert wegen etwas, das ich nicht leide, und vielleicht geheim geachtet wegen einer tragischen Würde, die mir nicht eignet! Heut’ ist ein Doppel-Leben, das ich der brutalen Gewalt in mich einzubauen erlaubte – den organisierten Schrecken von Anfang an einer persönlichen Exposition vorziehend – zum Kristall geworden. Dessen Kanten und Flächen werden bei Vielen nicht so scharf und drückend sein wie bei mir; aber bei manchen doch vorhanden, unvollständig zwar, aber in den Grundlinien oder mindestens angedeutet. Man kann durch Dulden schuldig werden. So, letzten Endes, hat der totale Staat den Menschen eingesackt; und die Kulmination liegt dort, wo das was einer vorstellt, mit dem, was einer ist (um Schopenhauerisch zu reden), keinerlei Konnex mehr

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