Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
erlöste uns von einem Alpdruck:
Gerhart Hauptmann war mit den Seinen auf dem Wiesenstein. Sein Zustand war zufriedenstellend. Kein Russe hatte bisher das Haus betreten.
*
Der Pfarrer Helmut Richter
Wittgendorf/Schlesien
Heute war infolge der Verkündigung [des Waffenstillstandes] die Kirche im Bittamt voll, und ein Zug von Menschen, so lang wie noch nie, zog hinter dem Kreuz und den Fahnen in den neuen schönen Morgen, den noch etwas die nächtlichen Nebel umhüllten, dann aber die Sonne so herrlich machte. Lange Reihen von Jugend, dahinter viele Männer; und hinter dem Allerheiligsten, das ich voll Glück und in einer so merkwürdig frohen Liebe trug, zog die lange, lange Schar der Frauen. Wieder die Allerheiligenlitanei singend. Und alle haben dasselbe Glücksgefühl in sich gehabt, wie mir hinterher viele versicherten. Die Spannung der Tage und Stunden entlud sich in dem Bitten und Danken, und es warallen, als wärme die Sonne der Gnade Gottes bis in den Grund der Seele. Lange, vielleicht bis ans Ende des Lebens, werde ich mich erinnern des Augenblicks, da wir in großem Halbkreis auf der Höhe standen, das wunderschöne Bergland vor uns, unten das weitgestreute Dorf, und wie wir in einem Gebet Christus baten, alles unter Seinen Schutz zu nehmen. Nachmittags um 3 Uhr hörten wir bei mir die Friedensbotschaft Churchills, des englischen Premierministers; Gott sei gedankt, daß das Morden endlich beendet ist. Noch werden uns manche schwere Stunden bevorstehen, aber es ist doch wenigstens der Krieg aus. Meinen Vorschlag vom Spätnachmittag, in der Nacht – wenn um 0 Uhr 1 Minute der Friede in Kraft tritt – eine Stunde lang die Glocken zu läuten, um dadurch zum Ausdruck zu bringen den Dank an Gott, daß der Krieg zu Ende ist, auch die dankbare Ehrfurcht gegen die, die ihr Leben für das Volk hingaben, und auch die Mahnung, nun das Volk in Gottes Ordnung aufzubauen; dazu die Bitte an Gott, unserm Volk nicht zu schwere Lasten auferlegen zu lassen; um 1 Uhr dann das Hochamt zu feiern in derselben Meinung: alles das hat Herr Pfarrer gestattet. Leider hat das Fehlen des elektrischen Stromes das Glockenläuten unmöglich gemacht.
Die Schülerin Inge Merten
Gleiwitz
An eine Freundin in Wien
Mein liebes Gretelein!
Gestern abend fand hier eine große Leuchtkugelschießerei statt. Eine Stunde dauerte der Zauber, wie ein Feuerwerk. Die Leute sagten, das sei Friedenssalut, weil Deutschland die Waffen gestreckt hätte. Ich konnte nicht einschlafen vor Aufregung. Wenn das nur nicht wahr ist, wenn bloß das nicht stimmt! Das kann doch nicht sein!
Mich würgt es im Halse. Das kann doch der Herrgott nicht zulassen! Wie soll denn das nur möglich sein?! Ich frage die Russen. Der Lumpenverwalter sagt, es stimmt. Der schwindelt sicher! Ein anderer weiß nichts, ein dritter meint, Breslau sei gefallen, darum das Freudenschießen. Was ist wahr, woran soll man glauben? Ich schleiche zu unserer Bank «Zufriedenheit» und bin ganz zermürbt. Das kann doch nicht wahr sein! Und wenn es doch zutrifft? Es verschlägt mir den Atem.
Und dann hat die Natur mir wieder einmal geholfen. Gäbe es einen blühenden Baum, einen lustigen Sommervogel, Blauhimmel und Sonnenschein, wenn alles Gute und Herrliche, wenn unser Deutschland zum Untergang bestimmt wäre? Das ist doch auch noch da, wie Vögel, Wald und Sonnenpracht, und wird nicht vergehen! Wie kann man nur so zweifeln. Wie oft sangen wir: Deutschland, heiliges Wort ... die Zeilengehen mir den ganzen Vormittag im Kopf herum. Wieviel Kraft gibt uns oft eines unserer Lieder!
Möge die Vorsehung uns gnädig sein und uns die Erlösung nicht versagen!
Der Bauer Hans Hoffmann
Gnadenfrei/Eulengebirge
Da sich nun ziemliche Menschenmassen zusammengefunden hatten, rückte der Treck nur sehr langsam und ruckweise vorwärts. Auch das zurückflüchtende Militär, hauptsächlich SS Formationen, beanspruchte rücksichtslos die Straße, und die Flüchtlinge wurden teilweise von den Straßen heruntergedrückt. Das Militär verbrannte die Sachen, zog die Uniformen aus und ließ zum Teil alles stehen und liegen. Es sah fürchterlich rechts und links der Chaussee aus. Für die Strecke von Gnadenfrei bis an das Eulengebirge, die man mit dem Kutschwagen unter normalen Verhältnissen in 1 Stunde zurücklegte, brauchte der Treck von früh 7 Uhr bis gegen Abend. In Habendorf warf ich meine Volkssturmsachen weg und zog mir Zivil an. Unseren gedeckten Kutschwagen, worin meine Frau mit den Kindern saß, zogen 1
Weitere Kostenlose Bücher