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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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ältere Frau von einem betrunkenen Russen vergewaltigt. Um vor den 22 anderen im Keller befindlichen Volksgenossen sicher zu sein, schoß die hereinstürmende Horde die Glühbirne der elektrischen Beleuchtung mit der Pistole entzwei und begingen dann in völliger Finsternis die Verbrechertat. Am frühen Morgen durchsuchten zwei dieser Steppenbestien die Handtasche von Tante Sidÿ, Mutti und den beiden bei uns wohnenden Frauen, ohne jedoch – dank der Vorsicht aller – etwas zu finden. Gegen mittag schleifte ein im Range eines Unteroffiziers stehender Bolschewik meine Mutti, die er im Treppenhaus in meiner Begleitung traf, mit. Als ich zu ihrem Schutz mitgehen wollte, wurde ich mit der Faust in den Brustkorb geschlagen. Die verängstigte Tante Sidÿ folgte den beiden trotz unaufhörlicher Drohungen und Beschimpfungen. Zuletzt verschwand der Russe mit Mutti in einem Keller und als Tante auch dorthin folgen wollte, riß der Bolschewist das Revolver aus der Tasche und hielt es Tante vor die Brust, worauf sie zurückweichen mußte. Wasdann geschah, entzieht sich unserer Kenntnis, daß es jedoch ein schweres Sittlichkeitsverbrechen war, erkannte man aus Muttis erschöpftem, bleichem Angesicht, als sie nach einiger Zeit zurückkehrte.
    Häufig konnte man heute beobachten, wie russische Kriegsberichter und Flugzeuge Filmaufnahmen von Breslaus Stadtbild und unseren geschlagenen deutschen Soldaten drehen.
    Der Postbeamte Wilhelm Bodenstedt 1894–1961
Breslau
    Heute von 8–171/2 Uhr zur Verhandlung im Keller Ohlauer Stadtgraben 28. Wurde entlassen, weil ich nicht Pg bin. Leider nichts zum Essen mitgehabt. Viel Kopfschmerzen infolge Hungers. Gleich nach 18 Uhr war ich zuhause. Gute Nacht, mein Weiberle.
    Schwester Josepha
Breslau
    Heut hatte ich Nachtwache. Die Russen haben uns heut wieder besucht, aber anständiger als gestern. Leider ist schon überall gestohlen worden u. die Mädchen u. Frauen belästigt worden.
    O lb. Gott, erleuchte doch diese Seelen, die Dich nicht kennen. O hilf doch unserem Volke, daß es im Geist der Sühne alle Leiden trägt. Wir haben ja viel gutzumachen. Wir wird es in meinem Leben gehen? Heut ist im ganzen Reich Ruhe geworden. Lb. Mutter Gottes, Dir sei Dank.
    *
    Gerhart Hauptmann 1862 –1946
Agnetendorf
    01 Minute (...) absoluten Ruhmes
    Feuerendeserklärung, absoluter, allgem (einer) Art
    Ab Nacht 1 Minute
    Friedensseligkeit
    Gerhart Pohl 1902–1966
Krummhübel/Schlesien
    Am 8. Mai wurde die bedingungslose Kapitulation bekannt. Am nächsten Morgen zog die Rote Armee in einzelnen wohlgeordneten Heeressäulen in Krummhübel ein.
    Der Anblick der gutgenährten ausgeruhten Leute kurz nach Breslaus Fall war niederschmetternd und zugleich ein wenig komisch. Nur die leichten Panzer der Vorhut erinnerten noch an Krieg. Die übrigen Soldaten rollten auf kanadischen Lastwagen, amerikanischen Jeeps oder den einfachen stabilen Wagen der Landesproduktion an. Darauf hockten sie in buntem Durcheinander, rauchten Zigaretten und spielten Balalaikaoder Mundharmonika. Einige hatten sich alte Bauernkutschen nebst Pferden requiriert und kutschierten gemütlich die Bergstraße hinan. Das Gros kam zu Fuß. Alle trugen Orden, manche mehrere lange Schnallen untereinander. Die meisten schoben Fahrräder. Auch Frauen in Uniform waren darunter. Alle waren in gelöster Stimmung.
    Schon nachmittags wurde die Lage für die Deutschen gefährlich. Die Sowjet-Soldaten hatten in den Kellern der Hotels Alkohol gefunden. Sie johlten und knallten herum, sammelten Taschen- und Armbanduhren ein, die kostbarsten wie die billigsten, und begannen die Frauen und Mädchen zu belästigen, die bald von Straßen und Feldern und aus den Häusern verschwunden waren. Am nächsten Tage war das Gros der Armee über die Paßstraßen nach der Tschechoslowakei weitergezogen. Nur eine verhältnismäßig schwache Besatzungstruppe war im Kreise Hirschberg geblieben. Wir atmeten auf.
    Da erreichte mich die Nachricht, Gerhart Hauptmann habe den Wiesenstein verlassen und sei in dem deutsch-tschechischen Grenzort Polaun (bei Schreiberhau) von den Amerikanern aufgenommen worden. Ich meldete sogleich ein Gespräch nach Agnetendorf an. Das heißt: Ich wollte es anmelden ... Die Stromzufuhr war abgeschaltet.
    Da ich selbst Krummhübel nicht verlassen durfte, schickte ich einen vierzehnjährigen Jungen nach Agnetendorf. Er verschwand auf einsamen Waldwegen und war nach acht Stunden zurück, ohne unterwegs einen Menschen getroffen zu haben. Sein Bericht

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