Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
aufgerissen wurde – Ende des Faschismus! Auf eine eigenartige, fast komische Art hatten wir den Faschismus gebraucht, um unsere Köpfe an ihm auszurichten. Jetzt plötzlich war es, als gleite man schwerelos in einer Raumkapsel: «Oben», «unten», «links», «rechts» waren bedeutungslos geworden. Natürlich sollten die alten Bedeutungen bald zurückkehren, aber für einen kurzen Augenblick – geschichtlich gesprochen – hatten wir keinen Kompaß, keine Gewißheit, wie wir uns orientieren sollten. Für diesen kurzen Augenblick waren wir menschlich, auf leidvolle Weise. Es gab nur das, was gerade passierte, und den Ausdruck in den Augen dessen, der gerade sprach und vielleicht erkennen ließ, ob er, sie die Wahrheit sagte oder log. Es war eine so aufregende, so elementare Situation, in der wir uns befanden – wie Tiere mit gespitzten Ohren und der Nase im Wind. Und plötzlich mußte man sich fragen, warum wir so viele Millionen umbringen mußten, um dahin zurückzukehren, wo wir angefangen hatten, bevor der Nebel der Ideologie aufstieg.
Was ja bald wieder geschehen sollte.
Kurt Weill 1900–1950
Los Angeles
An Lotte Lenya in New York
Meinem Linnerl-Darling einen «Happy V-E Day»! Ich denke den ganzen Tag an dich, weil es ja der Tag ist, auf den wir zwölf lange Jahre lang gewartet haben – seit jener Nacht im März 1933, in der wir per Auto nach München fuhren. Du hast ja den festen Glauben, daß wir das Ende dieses Schreckens noch erleben würden, nie aufgegeben – und jetzt ist das Ende also da. Ich kann mir vorstellen, wie aufregend es heute in New York sein muß, und bestimmt wirst du feiern, wahrscheinlich mit den Hustons. Hier merkt man nicht viel von Feststimmung. Hier ist man dem Krieg im Pazifik viel näher und das läßt echte Friedenslaune nicht aufkommen.
Ich habe den ganzen Tag im Studio gearbeitet. Aber früh als ich aufstand (ich habe um 6 Uhr Trumans und Churchills Reden gehört) wurde mir klarer denn je, was dies bedeutet und als ich zum Studio fuhr, fühlte ichmich wie eine Million Dollar, weil es zu einer Zeit geschehen ist, in der wir noch jung sind und in einer Welt ohne Nazis genießen können, was man so unsere besten Jahre nennt. Hoffen wir, daß sie diesmal wirklich hart mit den Deutschen verfahren. Ich denke, das werden sie tun, denn diese Greuel, die in den letzten Wochen in Deutschland entdeckt worden sind, machen einen verheerenden Eindruck auf die öffentliche Meinung hier – und selbst Amerikas sweetheart [Mary Pickford] sagte heute, sie wünschte, daß 70 Millionen Deutsche sterilisiert würden. (...) Auf bald, Baby. Sei niiiidelich, spiel dich nicht zu sehr auf . Take it easy, amüsiere dich, iß tüchtig, trink nicht und rauche nicht und schlipel dich aus und sei hochachtungsvoll ergebenst gegrüßt
von deinem Ehegatten
Knuti
Alfred Döblin 1878–1957
(Hollywood)
An Elvira und Arthur Rosin
So erleben wir denn jetzt, wenn auch noch nicht das Ende dieses Krieges, so doch den Sturz des Nazitums. Geht es Ihnen so wie mir: ich kann mich beinah kaum darüber freuen. Daß diese Bestie endlich daliegt, gut; aber was hat sie angerichtet. Den andern Verbrecher, in Italien, hat man auch zur Strecke gebracht. Wenn nun doch ein allgemeiner belebender Wille entstünde, wenn wir nun doch einen Sturm von Freiheit und menschlichem Gefühl, Schmerz und Solidarität erlebten, Aber kaum etwas davon. Eine neue Zeit, eine neue weltpolitische Periode bereitet sich vor, die Mächte gruppieren sich neu, eine lange Schwächeperiode (Gott sei Dank) steht in Aussicht; welch Schlag für uns, daß Roosevelt hinging, – es fehlen Stimmen. Aber vielleicht krabbelt man sich zurecht; wir hatten eine greuliche Zeit der «großen» Männer; vielleicht findet sich die Menschheit, ungestört von den schändlichen Herren, besser zurecht. Mein persönlicher Bedarf an historischen Ereignissen ist nun völlig gedeckt, – Ihrer wohl auch. Immerhin zeigt sich wieder einmal: zuviel Heldentum macht sich auch für die Helden schlecht bezahlt; am Schluß hängt man sie an den Hammelbeinen auf (man sollte eigentlich gleich damit anfangen). [...]
Vielleicht ist in einigen Monaten das Exil zu Ende, – und was kommt nachher? Das Leben eine Serie von Abenteuern.
Herzlichst Ihnen beiden Ihr Alfred Döblin
*
Der Oberleutnant Kurt S. *1918
Zeiden bei Kronstadt
Am 28. 4. abends marschiere ich los. Alles ist überwacht. Ich muß querfeldein und durch sämtliche Flüsse waten. Besonders jetzt führen die Flüsse
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