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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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weit weg von der Familie zu sein, daß das eine selbstverständliche Sache ist. Und dann hast Du angefangen, vom Wetter zu reden. Das sieht danach aus, daß Du Deiner Familie wirklich nichts zu schreiben hast (von mir persönlich rede ich gar nicht, solche Briefe habe ich sowieso nie bekommen).
    Dann zu der Frage mit dem Paket. Warum schreibst Du, daß es Dich «beunruhigt», daß Du das Paket bisher nicht schicken konntest? Wenn das wirklich so ist, warum machst Du es dann nicht einfach? Wir würden uns sehr freuen. Ich habe Dir, wie mir scheint, schon vor längerer Zeit (schon im Dezember) geschrieben, daß Du mir kein Geld schicken sollst, besser schon Schuhe für die Kinder und mich. Aber wenn es schwierig ist, ein Paket zu schicken, dann ist das auch kein Unglück. Wir haben bisher ohne Pakete gelebt, und so werden wir auch nicht sterben, wenn keine kommen!
    Übrigens haben viele Frauen hier schon mehrfach Pakete von ihrenMännern gekriegt, und sie entwickeln in dieser Hinsicht schon einen ungesunden Appetit, und ich will gar nicht, daß Du diesen Männern ähnelst, die (wie schaffen sie das bloß, sie müssen doch gleichzeitig auch kämpfen?) sich bemühen, den Bestellungen ihrer Frauen nachzukommen.
    Ich will natürlich nicht verschweigen, daß ich Hilfe brauche. Ich habe Dir schon geschrieben, wie schlecht es bei mir mit den Schuhen aussieht. Ich gehe jetzt schon in Holzpantoletten zur Arbeit (zum ersten Mal im Leben). Eine Schuhreparatur kostet 130 Rubel, und ich habe kein Recht, das den Kindern wegzunehmen, d.h. es von ihrer Ernährung abzuziehen.
    Aber das sind alles Dinge, die vorübergehen, wir werden wohl irgendwas nicht so Nötiges verkaufen, und dann wird es schon werden. Nur eines will ich: Ich will mich nicht für irgendwelche Pakete interessieren, die Seidenkleider oder sonstwas enthalten.
    Wir küssen Dich herzlich – Natascha, die Kinder und die Mamas.
    P.S. Du hast nach der Schuhgröße der Kinder gefragt, die habe ich Dir doch schon mal geschrieben (Nadja: 33–34, Kolja: 24–25).
    *
    Der sowjetische Hauptmann Naim Chafisow
Polen
    Breslau ist eingenommen. 40000 Hitlerleute sind gefangengenommen worden. So ist es ganz richtig ausgedrückt – nicht Deutsche, sondern Hitlerleute: Dort standen Wlassow-Leute.
    Schon drei Nächte hintereinander träume ich von Marija – und immer auf ungute Weise: Mal trägt sie ein schwarzes Kleid und redet nicht mit mir, mal hat sie ein schwarzes Kopftuch und geht von mir weg.
    Der Rotarmist Alexander Fedotow
(Breslau)
    Es mag komisch klingen, Mama, aber wonach ich mich in den letzten Monaten am meisten sehnte, war Stille. Stille ohne das Kläffen der Maschinengewehre, ohne das Lärmen der Geschosse. Gestern gab mir mein Vorgesetzter einen Passierschein. Die anderen gingen auf Trophäenjagd, suchten nach Maschinenpistolen, Feldstechern und Orden. Ich begab mich zum Fluß und starrte zwei Stunden lang auf das strömende Wasser. Und am Abend hörte ich erstmals im Leben, wie in den Büschen die Nachtigallen sangen.
    André Drouilat
Breslau
    Ich mache eine Runde zur Fabrik. Die Kameraden hatten in der Nacht Besuch von den Russen (sie kamen nur vorbei), aber Senftleben, seine Frau, seine Tochter (sehr jung) und seine Nichte haben Schwierigkeiten gehabt, sie sind zu uns geflüchtet mit 2 Frauen des Steingutwerks.
    In der Stadt erzählt jeder, was er gesehen hat, Plünderungen, Vergewaltigungen, Diebstahl von Uhren, Ringen usw. [...] Die Läden sind geschlossen. Die, die offen sind, sind «total» geleert. Ich habe einige Besorgungen machen können mit M., da wir durch den Hintereingang in die Läden gingen.
    Um Mittag Besuch von 3 Russen, ich versuche zu sprechen, aber sie scheren sich einen Dreck darum, ob wir Franzosen oder sonstwas sind. Sie geben sich damit zufrieden, aus der Kölnisch-Wasserflasche zu trinken und gehen dann wieder. Tagsüber noch einige andere Besuche. Die trikolore Kokarde, die wir zur Schau tragen, läßt sie ohne Reaktion.
    In der Stadt dauert das große Schauspiel an: die Russen entdecken Fahrräder und wollen radfahren, ohne daß sie es gelernt haben. Was soll man zu dem Soldaten sagen, der einen Wecker auf den Gehweg gegenüber wirft, weil er in seiner Tasche zu läuten anfing.
    In der Stadt wird das Passieren der Oderbrücken in Richtung Nord-Süd und Ost-West verboten.
    Der Schüler Horst G.W. Gleiss
Breslau
    Wie aus Augenzeugenberichten verlautet, wurde in der vergangenen Nacht im Keller des Wohnhauses Rosenthalerstraße 66 eine

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