Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
Vom Netzwerk:
waren, denn wir würden bald «da» sein, glitzerten die uns wohlbekannten Schnüre von Lampen auf, die ein Gefangenenlager, vielmehr dessen Zaun, des Nachts erleuchten. In ein Stichgleis fuhr der Zug bis dicht an die Lichter, und dann hieß es «let’s go!» Unheimlich bei Nacht, unsympathisch der Wechsel des Personals – mit den Begleitern konnte man ja zufrieden sein –, eklig die Hast, mit der man eine Herde treibt, seien es auch Menschen. Nach mehrmaliger Zählung (das wird nun immer so sein) ging’s übers Feld bis an den Zaun und dort wurde befohlen, im Schein von rings aufgefahrenen Autos niederzusitzen. Ein dicker, gebrochen Deutsch sprechender Captain hielt eine kurze Rede des Inhalts, daß jedermann aufgerufen werde, einen Zettel um den Hals bekäme, der zum Essen berechtige und als Ausweis für das processing – die Verarbeitung in der Papiermühle – gelte, daß man sich fügen solle, denn andernfalls würde man schießen, und hätte dann zwei – – im Bauch. Eins genüge, dies wiederholte er auf gleich aufflakkerndes Gelächter immer wieder. Es stellte sich bald heraus, daß es ein ganz famoser Bursche war. Subalterne Schreibernaturen, G.v. H. [garnisonsverwendungsfähig Heimat], dienerten katzbuckelnd vor ihm mit «Yes-sö», ganz wie sonstwo vor Vorgesetzten, aber sein «okay» war und blieb unerreicht im Verkehr deutscher Vorgesetzten mit Untergebenen. [...]
    Bei der folgenden Untersuchung der lumpigen Kleidung und Habseligkeit waren schnauzige Sergeants recht rigoros, mein restliches Notizbuch ging flöten. Und dann marschierte man in den Zaun.
    Innerhalb des Zauns nach neuer Überzählung nahm die Kolonne ein Oberleutnant in Empfang, der sehr feine Manieren und spanisch-aristokratischeZüge hatte. Er ließ bei jedem weiteren Halt, der an neuen Zäunen und sonstwie nötig wurde, alles niedersitzen, wohl eine militärische Methode, um leichteren Überblick zu haben, und ließ durch einen Dolmetscher uns stückweise berichten, daß Deutschland kapituliert habe; es war der 8. Mai 1945 abends etwa 11 Uhr, also nach europäischer Zeit schon der neunte. Er betonte merkwürdigerweise, was dann gar nicht mehr zutraf, daß die Kapitulation nur vor den Westmächten sei, nicht vor Rußland. Was in den Naziköpfen rechte Genugtuung hervorrief. Die meinten, dann werde man uns gleich auf amerikanischer Seite gegen Rußland weiter «einsetzen».
    Wolfgang Soergel
(Kriegsgefangenenlager in Schottland)
    Adolf Hitler ist tot. Um Chemnitz wird noch gekämpft, in den zerfetzten Zeitungsmeldungen lese ich von bürgerkriegsähnlichen Zuständen in diesem Raum, in dem ich Euch suche. Sehe ich Euch wieder? Ende April wurden von britischen Truppen NS-Konzentrationslager befreit, die englischen Intelligence-Officers geben schauerliche Berichte. Es wurden schlimmste Verbrecher verhaftet, das Bild des Kommandanten Koch, des «beast of Belsen», ist an die Informations-Tafel geheftet, ein gemeines, verabscheuungswürdiges Gesicht. Die Wirklichkeit ist viel schlimmer als das Geflüster und Geraune der letzten Monate, es öffnen sich die Pforten der Unterwelt. Es liegt nun kein ehrenvoll Besiegter am Boden, wir werden als Mörderbande angesehen, denen die Maske abgerissen wurde. Blut, würgende Folter, Skelette und der Massentod ziehen ihre Spuren hinter den geschlagenen Truppen des Reiches. Da hilft kein Schrei nach Erbarmen, wo die Ohren taub und die Augen blind waren. Angeklagt stehen alle Deutschen, vom jüngsten bis zum ältesten Glied, denen nun das Schicksal des Sisyphos auferlegt wird, in vergeblicher Qual reuevoll zu versuchen, den Stein der Schuld von uns zu wälzen, immer aufs neue, immer umsonst, da es kein Vergessen geben kann.
    Paul Groß *1925
Kriegsgefangenenlager
    bei Arbuckle/Kalifornien
    Ab 8. Mai ließ der Ami uns spüren, daß er den Krieg gewonnen hatte. Bis dahin hatte er sich streng an die Kriegsgefangenenbestimmungen gehalten. Jetzt wurden uns viele Erleichterungen und Annehmlichkeiten genommen. Beim Arbeitseinsatz wurden uns sogenannte Quoten (Erfüllung einer Arbeitsleistung) auferlegt. Das gute Essen wurde schlechter und weniger, auch der freie Einkauf in der Kantine wurde abgeschafft.
    Wir spürten, daß wir den Krieg verloren hatten. Etwas über ein halbes Jahr dauerte diese Schikane, dann wurde es langsam wieder besser.
    *
    Arthur Miller *1915
USA
    Welche Gefühle ich beim Kriegsende hatte, fragen Sie. Es war, als hätte man sich gegen eine Stahltür gedrückt, die mit einem Mal von innen

Weitere Kostenlose Bücher