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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Masse Soldaten waren der Rest der sich zurückziehenden Armeen, der der Gefangennahme an der russischen Front entkommen war. Sie sahen entmutigt und verkommen, hager und grau im Gesicht aus; viele waren unrasiert und barfuß, die bloßen Füße steckten in Lumpenstreifen. Einige trugen lange, zerlumpte Mäntel, schmutzige, ausgefranste Hosen – ein Bild, das an den Rückzug aus Moskau erinnerte. Arme, steif zum Nazigruß erhoben, grüßten den General entlang der ganzen Straße, aber die Ereignisse dieses Tages würden das Ende derartiger Demonstration bedeuten. Major O’Brian flüsterte: «Machen Sie sich keine falschen Hoffnungen, Sergeant, es ist das Hakenkreuz an der Mütze.»
    Von dem Tag an war es ein strafbares Vergehen, den Arm zum «Sieg Heil»-Gruß zu heben oder die Naziflagge öffentlich zu zeigen.
    Das deutsche Oberkommando war in einer Marineschule untergebracht, wo Wachen mit Stahlhelmen die Eingänge bewachten und auf dem Gelände Streife gingen, eine Aufgabe, die innerhalb von Minuten ihre Bedeutung verlieren würde. Als wir aus dem Wagen stiegen, erfolgte ein allgemeines Zusammenschlagen der Hacken wie Hunderte von Kastagnetten und flatterndes Nazigegrüße. Chester Wilmot und ich sahen kurz Feldmarschall Keitel, der oben an einem Erkerfenster stand, ehe wir in das Gebäude geführt wurden. Ein langer Gang lag vor uns. Noch mehr Wachen mit Helmen, umgehängten Gewehren und Handgranaten in ihren Koppeln salutierten in Naziart vor den Bürotüren. Von zwei zivilen Besuchern wurde in allzu bekannter Weise die Identität überprüft. Am Ende des Korridors wurde unsere Gruppe in einen spärlich möblierten Raum gewiesen, der voller deutscher Offiziere war. Nachdemwir eingetreten waren, wurden wir aufgefordert, uns zu setzen, und einer von ihnen erhob sich, nahm rittlings Platz mit dem Rücken zur Tür. Wir wurden gebeten, den Grund unseres Besuches zu erklären.
    «Sagen Sie es ihnen», sagte Major O’Brian zu mir.
    In stockendem Deutsch, aber im Bestreben, meine Stimme zu festigen, erläuterte ich, daß der Major und der Captain, sein Stellvertreter, mit einer Kopie der endgültigen Kapitulationsbedingungen von Feldmarschall Montgomery gekommen seien. Major O ’Brian habe das Dokument bei sich und verlange, es Feldmarschall Keitel auszuhändigen. Sie schienen uns nicht zu glauben. Major Buchs, der Sprecher der Deutschen, sagte in ruhigem und gemäßigtem Ton:
    «Diese Nachricht kommt überraschend.»
    Da bemerkte ich durch das hohe Fenster, dem ich gegenübersaß, die Spitze eines Bajonetts in Abständen hin und her vorbeigehen. Sie hatten eine Wache vor dem Zimmer postiert. Wir mußten warten; das erschien uns sehr lange, und die Ungeduld Major O’Brians mußte entschlossener ins Deutsche übersetzt werden. Ich werde mich immer an den schmuddeligen Raum erinnern, in dem ein geheiligtes Bild von Adolf Hitler von harmloseren Kunstwerken eingerahmt war, unter denen sich auch eine humorvolle Studie von zwei kleinen angelnden Jungen befand.
    Major Buchs entgegnete, daß wir nicht mit Feldmarschall Keitel zusammentreffen könnten, da er gerade fortgegangen sei. Diese Neuigkeit kam wie ein Schlag für uns; die dringende Nachricht erforderte die sofortige eigenhändige Übergabe der Kapitulationsbedingungen, und wir hatten Keitel noch nicht einmal gesehen? Da lief irgendetwas nicht ganz aufrichtig bei diesem Empfang. Wir protestierten: erkannten sie nicht die Bedeutung unseres Auftrags? Ich wiederholte: «Wir bestehen darauf, wir kommen von Feldmarschall Montgomerys Hauptquartier mit der erbetenen Kopie der endgültigen Kapitulationsbedingungen.»
    In diesem Augenblick wurden die Vorgänge durch ein lautes Klopfen an der Tür unterbrochen. Ein Deutscher verbeugte sich steif und verkündete Mittagessen.
    «Es ist Zeit zum Mittagessen», erklärte Major Buchs und verschob jede weitere Entscheidung.
    Major O’Brian bestand darauf: «Ich habe Befehl von General Eisenhower, dieses Schreiben Feldmarschall Keitel eigenhändig zu übergeben.» – «Aber das ist unmöglich, er ist nicht hier», erwiderte der Major. Da konnte man in dieser Angelegenheit nichts unternehmen, und vermutlich war man weiterhin dabei, irgenwo im Hintergrund unsereReferenzen zu überprüfen. Alle möglichen unangenehmen Gedanken begannen sich in meinem Kopf zu regen, und ich konnte fühlen, daß meine Gefährten meine Besorgnis teilten. Während wir in dem Zimmer warteten, hörten wir Scharen von Soldaten von ihrer morgendlichen Arbeit

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