Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
Eure Farm müßte, wenn sie in Deutschland läge, ungefähr 14 Leuten Unterkunft bieten. Zu essen gibt es nichts mehr. Es ist bewundernswert, wie sie trotzdem wirtschaften. Die Hauptstraßen sind in unglaublichem Zustand. Unser Transport bewegt sich in einem endlosen Zug in die eine Richtung, und in die andere, gegen den Strom, marschieren deutsche Gefangene unter Bewachung, deutsche Soldaten mit weißen Fahnen, die sich ergeben wollen, deutsche zivile Flüchtlinge + Gruppen von befreiten Kriegsgefangenen aus ganz Europa. Für sie alle scheint eine Armeeration eine große Menge zu sein. Mein Freund nahm eine Rolle Seide aus einer deutschen Fabrik mit für die Frauen, die uns geholfen hatten, etwas zu organisieren. Sie waren völlig außer sich vor Freude und brachen zusammen. Ich hörte, wie er einem jüdischen Geistlichen, (der mich um einen Fallschirm bat, um die Frauen mit Kleidung zu versorgen), den Rat gab, noch vierzehn Tage zu warten, bis er ihnen solche Luxusartikel geben könnte, da die Auswirkungen sonst gefährlich sein könnten. Ich bin überzeugt, daß dem Durchschnittsdeutschen nicht bewußt ist, was sich in jenen Lagern abspielt.
Herzliche Grüße
Dein Maurice.
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Der Schriftsteller Walther Teich 1894–1962
Hamburg
Die Phrase konnte erst recht gedeihen, als die Buchdruckerkunst immer weiter fortschritt. Was aber ist Phrase? Auf Anhieb würde ich definieren: Bei der Phrase decken sich nicht Form und Gehalt. Der Gehaltist kleiner als die ihn einhüllende Form. Die Form will einen bedeutenden Gehalt vortäuschen. Also ist die Phrase ein Stück Unehrlichkeit. Es gibt Menschen, die von Natur unehrlich sind. Sie müssen sich durch Phrasen ausdrücken. Das kann sich zu einer regelrechten Kunst entwickeln. Der Dichter wird nie Phrasen machen, der Künstler kann es tun. Es gibt große Talente, die herrliche Phrasen schreiben können. Die Zeit kommt ihnen entgegen. Man könnte behaupten, daß das letzte Jahrhundert in Kunst und Literatur von Phrasen gelebt hat, ja, das tägliche Leben der «Gebildeten» ist ohne die Phrase überhaupt nicht zu denken. In den Schulen beginnt es, auf den Hochschulen treibt es seine Blüten. Mir scheint die deutsche Sprache besonders Gefahren in sich zu bergen, was die Versuchung zur Phrase angeht. Das liegt daran, daß wir zu viel Freiheit haben, in der Anwendung von Begriffen. Dieses Glück wird leicht zum Unglück. Es geht den Menschen da, wie es den Klavierspielern oft geht. Sie sizten vor einem Flügel. Dieser gibt ihnen die Möglichkeit, unheimlich viel auszudrücken. Sie können aber technisch nicht so viel. Da beginnen sie denn, musikalische Phrasen zu spielen, indem sie mit unzureichenden Mitteln eine virtuose Klangfülle zu erreichen versuchen. Also Unehrlichkeit, Verschwommenheit, Klaffen zwischen Gehalt und Form.
Solange die Leser nicht bemerken, daß die Einfachheit mehr sagt als die Weitschweifigkeit und die Wahrheit mehr als der Schwindel, ist wenig Hoffnung auf Besserung. Da aber das menschliche Auge, das Gesicht den Menschen mehr sagt und es eindringlicher sagt als das Wort, mögen die Trümmer unserer Städte uns sagen, wohin die Phrase, die Halb- Wahrheit, ein Volk führen kann.
Kurz ist der Weg von der Halb-Wahrheit zur Ganz-Lüge. Wir haben es da sehr weit gebracht, teuflisch weit.
*
Der sowjetische Hauptmann
Alexei Kalinin *1911
im Osten
An seinen Sohn Wladimir
Guten Tag, Wowotschka!
Wowotschka, gerade eben habe ich Deinen Brief bekommen, während des Kampfes, und während ich Dir die Antwort schreibe, sitze ich in einer Spalte, die wir in die Erde gegraben haben.
Wir schlagen die Deutschen, mein Sohn, und wir bewegen uns täglich so fünf oder manchmal acht Kilometer vorwärts. Wir bemühen uns,möglichst schnell alle Fritzen zu vernichten, damit der Krieg zu Ende ist, damit Ihr besser leben könnt.
Du schreibst, daß Du Ferien hast, während bei uns die Ferien zu Ende sind, und wir zeigen es jetzt den Fritzen, das heißt, wir schlagen sie, damit ihnen die Lust am Kriegführen vergeht.
Mein Sohn, ich habe Euch schon drei Päckchen geschickt, ich habe auch Papier dazugelegt.
Nach unserem Feuer ist die Infanterie vorwärtsgegangen, jetzt rücken auch wir vor.
Also, einstweilen auf Wiedersehen, Wowotschka!
Ich küsse Dich herzlich
Dein Papa
Der Rotarmist Boris Markus
Österreich
Brief an Unbekannt
Wir sind also schon im vierten Staat angelangt. Er ähnelt weder dem ersten noch dem zweiten noch sonst einem. In Ungarn war es mit der Sprache
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