Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
Chereau
unterwegs
Mit der Evakuierung wird es ernst, wir verlassen das Lager um 10.30 Uhr, und wir erhalten keinerlei Verpflegung für den Weg. Wir konnten noch einen Liter Suppe hinunterstürzen, bevor wir aufbrechen mußten. Unsere immer noch gleich brutalen und jeglicher Menschlichkeit abholden Bewacher zeigen immer noch keine Nachlässigkeit bei unserer Bewachung. Wir erleben wieder die Wechselfälle der vergangenen Woche. Wir durchqueren Freystein. So legen wir ungefähr 30km zurück, und als die Nacht hereinbricht, werden wir auf einer Wiese zusammengepfercht, um uns dort einige Stunden auszuruhen. Mit Freude stellen wir fest, daß nur wenige unserer Kameraden fehlen. Der Aufenthalt in Flossenbürg hat jedem von uns ein wenig Erholung ermöglicht.
Der amerikanische Kriegsgefangene
Ray T. Matheny *1925
Österreich
Um den 20. April herum zogen wir über eine Straße, die durch ein kleines Tal hindurchführte. Unsere Gruppe von Kriegies kam gerade an liegengebliebenen deutschen Fahrzeugen vorüber, als wir ein Flugzeug herankommen hörten. «Das ist eine P-51», sagte ich zu meinen Gefährten. Die Kriegies suchten gemeinsam mit ihren deutschen BewachernDeckung in den Gräben zu beiden Seiten der Straße. Zwischen uns und der kleinen Raststätte lagen vielleicht zweihundert Schritt. Einer unserer Leute hatte im Stalag 17-B ein Sternenbanner erhalten, das für ein Begräbnis gedient hatte. Diese Flagge hatte er auf dem ganzen Marsch mitgeschleppt, und jetzt breitete er sie auf dem Boden aus in der Hoffnung, daß der Flugzeugführer der P-51 sie sähe. Ausgerechnet in diesem Augenblick kamen rund fünfzig Hitlerjungen aus der Raststätte heraus und liefen schutzsuchend auf uns und die amerikanische Flagge zu. Die P-51 kam auf uns herniedergefahren und wäre bestimmt in der Lage gewesen, die meisten von uns in den Himmel zu schicken, doch plötzlich hörte die Maschine auf zu rollen und ging die Waagerechte, damit der Pilot besser sehen konnte. Und in der Tat hatte er das Sternenbanner entdeckt und bei genauerem Hinsehen die abgerissene Armee von Gefangenen erkannt. Woraufhin der Flugzeugführer uns ein herrliches Beispiel von Siegesloopings vorführte, was unglaublich erhebend für uns war.
Wir verspotteten die uniformierten und mit einem Fahrtenmesser bewaffneten Hitlerjungen. «Wohin mögen diese Witzbolde bloß marschieren?» dachte ich. «Sie laufen ja direkt den Russen in die Arme.»
Der kanadische Lieutenant Colonel H.M. Baker
Friesoythe
Heute einige Kriegsgefangenenlager besucht, die unsere Truppen während der letzten Tage befreit haben. In einem dieser Lager befanden sich über 1000 polnische Frauen, die nach ihrem gescheiterten Aufstand und dem Fall von Warschau vor ein paar Monaten gefangengenommen worden waren. Die Hunnen hatten Hunderte von Frauen aus allen Schichten zusammengetrieben und sie in dieses Lager gepfercht. Sie hatten sie nicht eigentlich mißhandelt, aber sie hatten Hunderte in Unterkünften zusammengepfercht, die normalerweise nur für ein paar Dutzend geeignet waren. Sie hatten auch ihr Bestes getan, durch alle möglichen anderen Mittel ihre Moral zu brechen, ohne direkt zu körperlicher Gewalt zu greifen. Zum Beispiel hatten sie für hundert Frauen nur einen einzigen Wasserhahn für alle Zwecke zur Verfügung gestellt.
Es waren ein paar echte Schönheiten unter ihnen, und Tommy O ’Hara und ich weideten unsere Blicke an den vielen hinreißenden Brüsten, die die Pullover und Hemden mit offenem Kragen so verführerisch präsentierten. Im ganzen Lager gab es nicht einen Büstenhalter, und alles konnte sich frei im Wind bewegen. Sie alle schienen einigermaßen wohlgenährt zu sein, und einige der Mädchen trugen sogar echte Seidenstrümpfe zur Schau. Diese letzte Ungereimtheit läßt sich jedoch leicht erklären, dennüberall im Lager schwärmten Soldaten der polnischen Panzerdivision umher. Mehrere von ihnen hatten sogar Frauen, Töchter und Freundinnen unter den Gefangenen wiedergefunden.
Tom und ich besuchten auch ein Lager mit Italienern, die von den Deutschen gefangengenommen worden waren. Hier bot sich uns ein völlig anderes Bild. Den Hunnen hatte es gar nicht gefallen, als die Italiener sich aus dem Krieg zurückzogen und dann auf unserer Seite wieder eintraten. Die Folge davon war, daß sie alle italienischen Gefangenen miserabel behandelten. Die meisten Männer in diesem Lager waren wandelnde Vogelscheuchen. Sie erzählten uns, die Einstellung der Deutschen sei gewesen:
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