Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
ließen. Mit Hilfe eines französisch sprechenden russischen Soldaten, der so etwas wie ein offizieller Pressevertreter war, brachte ich ein paar Russen und Amerikaner dazu, auf die Brücke hinauszugehen. Ich erklärte ihnen, was ich von ihnen wollte, und brachte sie in Stellung für meine Fotoaufnahme. «Seht nicht in die Kamera!» Ich machte einige Aufnahmen, wobei ich darauf achtete, daß sie nicht direkt in die Linse blickten.
Zwei Tage später prangte mein Foto auf den Titelseiten der größten Londoner Zeitungen. Es war, wie die «New sC hronicle» berichtete, « ein Bild, das die Welt nie vergessen wird». Am selben Tag noch erschien esauf der Titelseite der «New York Times» und vieler anderer amerikanischer Zeitungen. Über die Jahre hinweg wurde mein Bild von den händeschüttelnden amerikanischen und russischen Soldaten auf der Brücke von Torgau für die zweitbeste Fotografie des zweiten Weltkrieges angesehen. Nur Joe Rosenthals Foto von der Flaggenhissung auf Iwo Jima ist bekannter.
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Michael Wieck *1928
Lager Rothenstein
Der Zustand, in dem wir uns befinden, ist mit Folter zu vergleichen und absolut unerträglich. Doch siehe, es geschieht etwas. Als wieder ein neuer Trupp in den Keller kommt, holt man uns heraus und steckt uns zu den anderen. Der Keller ist lang und verzweigt. An irgendeiner Kellertür bleibt der Posten stehen, und mindestens achtzig Personen werden in einen leeren Kellerraum geführt, in dem wir aufrecht stehend gerade soviel Platz haben, daß die nach innen sich öffnende Kellertür wieder geschlossen werden kann. Da stehen wir nun in einem Keller, der nur zwei, auch noch mit Splitterschutz versehene Fenster hat. Das bedeutet: Die unter der Kellerdecke befindlichen Fenster sind zugemauert und haben nur zwei Luftschlitze, die für die Belüftung eines mit so viel Personen vollgepferchten Raumes nicht entfernt ausreichen. Eine Weile stehen wir hilflos herum, dann beginnen sich einige auf den Boden zu setzen, was wiederum anderen den Platz nimmt. Allmählich geht ein Gerangel los, Schimpfen und Fluchen. Jeder kämpft, stößt und schubst um einen Fleck Boden. Aber ohne daß man aufeinander liegt, ist das nicht zu erreichen. Wir würden uns auch schlagen, wenn nicht Erschöpfung und lähmende Resignation die Oberhand gewonnen hätten. Wie in Waggon eingepferchtes Schlachtvieh kommen wir uns vor, aufgefordert zum Sterben. Verglichen damit ist unsere Schweinebucht zwar dreckig, aber wie eine Zwischendeckkabine. Wer jetzt einschläft, erlebt bald ein böses Erwachen. Arme, Beine, Köpfe und sogar Körper liegen auf einem, und es ist gar nicht leicht, sich von den Lasten wieder zu befreien. Wer schläft, gerät in die Unterlage, wer wach ist, strampelt sich nach oben. Der Sauerstoffmangel wird immer unerträglicher. Jemand hat noch Streichhölzer, und da auch dieser Keller völlig dunkel ist, zündet er eines davon an. Außer dem Schwefelkopf brennt kein Streichholz, so schlimm ist bereits der Sauerstoffmangel. Und dann der Blech-Hobbock, dieser gelbe Marmeladeneimer, der als Klosett dient. Man kommt nicht hin zu ihm und wenn, dann sitzt irgendein ruhrkranker Dauerscheißer –wie sie genannt wurden – darauf. Das Fassungsvermögen reicht nicht aus, und am ersten Tag läuft er über. Neben mir hustet ein Mann, der sich immer sehr bemüht, von mir weg zu husten. Er ist ziemlich am Ende, aber sorgt sich rührend um mich und erträgt es, daß ich die meiste Zeit auf ihm liege. «Jungche, halt dich wech von mir!» sagt er nur ab und zu in breitem Ostpreußisch.
Nur ein einziges Mal am Tag, ab und zu zweimal, können wir den Keller verlassen. Dann werden wir unter Bewachung an ein Buschgelände in der Nähe des Stacheldrahtzaunes geführt. Dort sollen wir in flache Mulden «machen», was erst gelernt sein will. Man muß ganz nahe an den Muldenrand treten ohne hineinzufallen. Außerdem ist uns durch den ungewohnten Sauerstoff schwindlig, und wir haben kein Papier, keinen Halt, keinen Kleiderhaken.
Auf dem Rückweg sehen wir einen Haufen aufgeschichteter Leichen. Sie liegen an der Kasernenwand. Am nächsten Tag sind sie weg, und am übernächsten Tag ist ein noch größerer Haufen da. Man stirbt, und die Russen haben nichts dagegen. Im Gegenteil. –
Irgendwann am Vormittag gibt es Wasser zu trinken. Es ist unabgekochtes Wasser aus dem Oberteich, das sie aus einer Wanne austeilen. Das Wasser ist so trübe, daß man den Grund der Wanne kaum sehen kann. Ich werde das Wasser nicht trinken,
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