Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45
von Schmeichelei und Lüge, von all dieser verdammten Hinterlist.
Wie würde ich mich dabei fühlen, Dir ein oder fast zwei Jahre lang so schmeichelhafte Briefe zu schreiben, wenn ich, wie manche andere, hier eine Gefährtin hätte?! Wo wäre dann die große Seele, von der Du so häufig schreibst, nach der Du solche Sehnsucht hast?! Nein, Werusska, so etwas wird es nicht geben.
Auf Wiedersehen. Ich umarme und küsse Dich herzlich
Dein Kima.
*
Mariela Kuhn *1909
(Oxford/Head Injury Hospital)
Ging in die Augenklinik, um [den deutschen Kriegsgefangenen] Bernau zu besuchen – kam gerade zurecht, um ihm Lebwohl zu sagen, da er jetzt ins Watford-Kriegsgefangenenlazarett gebracht wurde. Er hatte Angst zu gehen, so blind, wie er ist, widerwillig einen Ort zu verlassen, an den er gewöhnt war. Ich geleitete ihn die Treppe hinunter zum Wagen, nur im Bademantel über dem Pyjama, sein Eigentum umklammernd, ein mitleiderregender Anblick. Ein freundlicher kleiner Soldat der Wache mit einem Revolver im Gürtel und einer Maschinenpistole über der Schulter und eine Krankenwagenfahrerin brachten ihn in einem kleinen Wagen fort.
Roehl geht es viel besser, er liest und sieht gut aus: ein Durchschnittsdeutscher, rundherum eine durchschnittliche Person; über die Neuigkeiten, Kämpfe in Berlin usw., ist er weder aufgeregt noch niedergeschlagen, seine Einstellung und seine Redensart sind: «Man muß das Leben eben nehmen, wie es kommt.» Hat keine Zahnbürste und Zahnpasta, es scheint, als ob man diese Dinge für die Kriegsgefangenen eingestellt hat.
Johhess von Station M4 ist am 24. gestorben. Ich weiß nicht einmal, ob das sein richtiger Name war, kann auch Johann Hess gewesen sein. Zu diesem Namen gehörten die Zahlen 11339 F.P.N (Feldpostnummer), werde versuchen, mehr über ihn herauszufinden und Verbindung mit seiner Familie aufnehmen.
Ruth Klüger *1931
(Straubing)
Und eines Tages waren sie da, die Amis. Das Wetter war schön, es war Frühling geworden, sie hatten die Stadt eingenommen, indem sie mit ihren Panzern und Jeeps voranfuhren, und es hatte keine Schlacht um Straubing gegeben. Der lange Spuk, der mein Leben gewesen war, diese sieben bösen Jahre, seit Hitlers Truppen, auch sie ohne Kampf, in Österreich einmarschierten, war mit einem Mal vorbei. Wir waren am Ziel. Wir hatten nie weitergeplant als bis zu diesem Moment. Wir drei gingen in das Stadtzentrum, sahen einander verdutzt an, und fragten uns, «Was nun?» Meine Mutter nahm ihr bestes Schulenglisch zusammen, das sich übrigens als gar nicht so übel entpuppte, ging getrost auf den ersten besten amerikanischen Soldaten zu, einen MP (military policeman), der an diesem Straßeneck den Verkehr regelte, und erzählte ihm kurz und bündig, wir seien aus einem KZ entlaufen. Was er antwortete, verstand ich nicht, weil ich noch kein Englisch konnte, aber seine Gebärde war unmißverständlich: Er legte die Hände an beide Ohren und wandte sich ab. Meine Mutter übersetzte. Er hätte nachgerade genugvon den Leuten, die behaupteten, sie seien in den Lagern gewesen. Man treffe sie überall an. Wir waren schon wieder welche.
Die Aprilsonne wärmte mir die Haut. ich konnte von jetzt an kurze Ärmel tragen, und es war egal, ob jemand die KZ-Nummer bemerkte; auch bei meinem richtigen Namen durfte ich mich wieder nennen. Ein unvergeßlicher Tag würde es bleiben, doch ich war froh, daß wir uns schon selbst befreit hatten und von den Siegern nicht mehr viel brauchten, denn für die lang herbeigesehnte und in meiner Phantasie zu einem großen Fest hochstilisierte Stunde der Befreiung war sie etwas spärlich ausgefallen. Hier war mein erster Amerikaner, und der hielt sich die Ohren zu.
Also eines stand fest: nicht unsertwegen war in diesem Krieg gekämpft worden.
Alfred Kantorowicz 1899–1979
New York
Im April 1945 hat die westliche Welt den Bestand von Konzentrationslagern in Nazideutschland «entdeckt». Ein Aufschrei des Entsetzens läuft durch die Presse der Demokratien. Sie hätten das alles bereits seit zwölf Jahren zur Kenntnis nehmen können, aus Tausenden von Berichten entkommener Opfer, aus dokumentarisch belegten Büchern – dem Braun-Buch zum Beispiel. – Hätten sie die Wahrheit damals nicht überhört, so wäre dieser Krieg mit seinen dreißig Millionen Toten und der Verwüstung Europas vielleicht zu verhindern gewesen. Wir alle haben gewarnt: Seht euch um, so beginnt es; die ersten Opfer sind die guten Deutschen selber, ihr werdet die nächsten sein,
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