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Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45

Titel: Das Echolot Abgesang '45. Ein kollektives Tagebuch (4. Teil des Echolot-Projekts) - Kempowski, W: Echolot/Abgesang '45 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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wenn ihr ihnen nicht zu Hilfe eilt. Jetzt, nachdem alles vorbei ist, die Blüte Europas teils in diesen Lagern und teils auf den Schlachtfeldern verfault, jetzt «entdeckt» man, daß Nazis wie Nazis handeln. Es wird die Toten nicht wieder erwecken.
    *
    Joan Wyndham *1922
Watnall/Nottinghamshire
    Noch so ein höllisches Konzentrationslager, Dachau, ist gefunden worden. Gestern wurde es befreit. Die Russen und Amerikaner haben sich endlich an der Elbe getroffen und kämpfen von jetzt an zusammen.
    Franz Ballhorn
KZ Sachsenhausen
    Wir wanken über regennasse Straßen und Wege, manchmal mehr kriechend als marschierend. Die Toten, die Toten ... ihre Namen wirbeln immer wieder hoch wie längst gefallenes Laub.
    Vielen ist das Schuhwerk aufgerissen. Sie haben Bindfäden und Draht darum geschnürt, die sich unterwegs lösen, so daß sie halb barfuß weiter- taumeln. In Fetzen schlottern die Mäntel und Hosen um die knackenden Gelenke und Knochen, Fleisch ist nicht mehr auf den Rippen. Rechts und links liegen Erschossene im Straßenschlamm und in den Gräben. Ihre aufgerissenen Augen wäscht der Regen, ihre mageren, schmutzigen Hände sind im Dreck versunken. Schrecklich blecken sie ihre Gebisse in den Himmel. Kein Kreuz wird je ihre Frauen und Mütter zu ihrer letzten Ruhestätte führen.
    Wir weinen nicht, wir fluchen nicht, wir trauern nicht. Unsere Gesichter sind schwer zu erkennen in der aschfahlen Haut. Zwischen den spitz hervorstehenden Knochen unserer Wangen liegen die ausgelöschten Augen wie trübe, schlammgefüllte Löcher. Die letzten Tage, die hinter uns liegen, lassen uns nicht mehr daran glauben, daß wir noch leben. Niemand spricht, kein Ruf ertönt. Wir sind todmüde, zerschlagene, halb- verhungerte Jammergestalten, die irgendwo eine Handvoll Laub, ein Bund Stroh und Lumpen suchen, wo sie sich ausstrecken und sterben können. Wir keuchen dahin, tiefgebückt und mit schlurfenden Schritten. Da und dort hockt eine graue, zerfallene Gestalt etwas abseits und spritzt Blut und Schleim von sich. Manchmal fällt auch einer um und bleibt liegen, windet sich in furchtbaren Schmerzen. Der Genickschuß ist das bittere Ende.
    Man müßte schreien können. Aber Zungen und Stimmbänder sind gelähmt. Es wird noch eine Zeit dauern, bis wir wieder sprechen, weinen, aufbrüllen können, hinausschreien können, gellend, daß es das Blut derer erstarren läßt, die hören sollen: die unsagbare Verzweiflung unserer Seelen und Leiber.
    Werden wir je wieder normale Menschen werden? Wie ein Stück Dreck hat uns diese Zeit in ihre blutigen Fäuste genommen und uns hineingeklatscht in das Grauen, in Sadismus und Wahnsinn.
    Einer kriecht auf allen Vieren vorwärts, bleich im Entsetzen vor dem nahenden Ende. Niemand achtet darauf, nicht der nächste Nebenmann. Jeder kennt nur sich, fühlt nur dumpf seine eigene Qual. Sein furchtbares Leiden betäubt ihn, Tag und Nacht.
    Wir gut, daß ihr daheim nicht wißt, wir furchtbar wir unsere Qual durch die Stunden tragen. Euere armen, geschwächten, ängstlich horchenden Herzen müßten daran zerbrechen.
    K. A. Gross
KZ Dachau
    Die Morgenmesse ist so gut besucht, daß die Kapelle überfüllt ist. Vergeblich versuchen die am Ausgang Stehenden die Tür zu schließen. Sie öffnet sich immer aufs neue, und jedesmal flutet ein Strom kalter Morgenluft von draußen herein, die Nacken der betenden Priester wie mit frostigen Händen begreifend. Doch keiner sieht, in Andacht versunken, zurück. Die Litanei zu Ehren des heiligen Markus, dessen Fest heute gefeiert wird, gleicht einem Streifzug durch die Zeit der alten und ältesten Christenheit; ergreifend klingt sie immer wieder auf, die Anrufung der apostolischen Kämpen und Märtyrer: «Sancte Petre, Sancte Paule, ora pro nobis!» – Märtyrerluft! – Die Kette der Blutzeugen reißt nicht ab, und auch dieser Boden hat schon das Blut derer getrunken, die um des Glaubens willen ihr Leben opferten, ohne großes Aufsehen davon zu machen.
    Die Kommunion! Ein feierlicher Augenblick! Sie lassen sich alle in Ehrfurcht auf die Knie nieder, um das Sakrament zu empfangen. Tief verneigt sich jeder, wenn ihm der durch die Reihen wandelnde Priester das geweihte Brot reicht. Danach – wiederum ein Anblick von herzbewegender Tiefsinnigkeit – umarmen sie sich und geben sich gegenseitig den Bruderkuß. Bei aller Schlichtheit greift dir diese edle Form tief ans Herz. [...]
    Es sind die letzten Zuckungen eines ungeheuren Todeskampfes, was sich in diesen Tagen vor

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