Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
bei uns in jedem Tümpel finden kann, genauer untersucht. Komplizierte Entscheidungen kann ein Pantoffeltierchen nicht treffen, da es weder über ein Gehirn noch über ein Nervensystem verfügt. Trotzdem kann es die Temperatur messen und auf das Messergebnis reagieren. Biologen bezeichnen das Pantoffeltierchen deshalb auch als schwimmende Nervenzelle. Es kann Reize aufnehmen und verarbeiten und ist damit in etwa so leistungsfähig wie ein einzelnes Neuron unseres Nervensystems. Bei einem System wie der Temperaturregelung geht es aber sowohl in der Biologie als auch in der Technik um die Frage, wer oder was eigentlich den Sollwert bzw. Setpoint festlegt. Bei der Heizung in unserem Museumsbeispiel ist die Antwort offenkundig: Der zuständige Angestellte stellt am Thermostat den Sollwert für die gewünschte Raumtemperatur auf 20 °C ein. Messfühler regeln die Heizung anschließend so, dass sie dem vorgegebenen Wert möglichst nahekommt. Aber wie hat die Natur das Problem des Setpoints vor Jahrmillionen bewältigt? Wer oder was hat den Thermostat der Ciliaten eingestellt? Die Lösung ist so einfach wie genial.
Es gibt beim Einzeller nicht nur einen, sondern zwei Thermosensoren. Einer ist für den Niedrig-Temperaturbereich (Kälte) zuständig, der andere für den Hoch-Temperaturbereich (Wärme). Die Sensoren bestehen aus jeweils einem Kalziumkanal, der sich bei unterschiedlichen Temperaturen öffnet. In den tieferen, kalten Wasserschichten zeigt der Niedrig-Temperatursensor die stärkere Reaktion; in den oberen, warmen Schichten der Hoch-Temperatursensor. Immer wenn einer der beiden Sensoren stärker reagiert als der andere, führt diese Differenz oder diese Ungleichheit dazu, dass ein »Richtungswechsler« im Pantoffeltierchen in Gang gesetzt wird. Dieser Richtungswechsler bewirkt, dass das Pantoffeltierchen mit Hilfe seiner Wimpern seine momentane Bewegungsrichtung ändert. Es schlägt jetzt einfach eine neue, zufällig gewählte Richtung ein, in der Annahme, so den zu heißen oder zu kalten Unwohlfühlbereich verlassen zu können.
Um besser zu verstehen, wie dieser Richtungswechsler das Tierchen in seinen Wohlfühlbereich bringt, spielen wir einfach ein Beispiel für sein Bewegungsverhalten durch: Wird in der Tiefe der Kältesensor aktiver als der Wärmesensor, so ist diese Ungleichheit das Signal für die Zelle, umzudrehen. Das Tierchen ändert jetzt immer wieder seine Richtung, und zwar so lange, bis es wieder nach oben in wärmere Regionen gelangt ist. Wird in der Nähe der Wasseroberfläche nun der Wärmesensor aktiver als der Kältesensor, heißt es wieder umdrehen, die neue Richtung heißt abwärts. Das geht so lange zwischen den Polen hin und her, bis das Pantoffeltierchen die Region der idealen Wassertemperatur erreicht hat. In diesem Wohlfühlbereich reagieren der Kälte- und der Wärmesensor nämlich etwa gleich stark. Das heißt: Je besser die beiden Sensor-Reaktionen übereinstimmen, desto seltener wird der Richtungswechsler in Gang gesetzt. Und so hat das Tierchen sein Ziel erreicht. Es bewegt sich dann erst einmal für lange Zeit in der horizontalen Wohlfühlschicht auf der Suche nach Nahrung.
Das Beispiel der Pantoffeltierchen verdeutlicht das Grundprinzip eines denkbar einfachen, aber gut funktionierenden natürlichen Regulationsmechanismus, bei dem im Kräftespiel mit der Zeit ein Mittelwert und ein Mittelzustand, ein Ausgleich, angestrebt wird. Erstaunlicherweise enthalten die beiden Sensoren dieses simplen Systems bereits den Setpoint. Es ist also gar nicht mehr nötig, dass jemand oder etwas von außen (wie bei der Museumsheizung) für die Zelle einen Setpoint festlegt. Die Dynamik zwischen zu warm oder zu kalt führt automatisch dazu, dass die optimale Umgebungstemperatur dann erreicht wird, wenn sich aufwärts und abwärts treibende Kräfte ausgleichen. Dieses einfache, sich selbst regulierende System ist sicher eine der genialsten Erfindungen der Evolution, bewährt seit einer halben Milliarde Jahren. Da das Modell so erfolgreich eingeführt wurde, liegt die Frage nahe, ob die Natur die Idee (nach dem Prinzip der Selbst-Ähnlichkeit) auch in komplexeren Systemen weiterverfolgt hat. Zum Beispiel in unserem Gehirn.
Gehirn und Körper im Wohlfühlschwebezustand
Luc Pellerin hat nachgewiesen, dass Neuronen des Gehirns in der Lage sind, über den Botenstoff Glutamat Glukose zu bestellen – energy on demand . Ob die Energielieferung dann tatsächlich bei der Hirnzelle eintrifft, prüft eine
Weitere Kostenlose Bücher