Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
Kontrollinstanz im Gehirn. Es ist wahrscheinlich das komplexeste uns bekannte Mess-Netzwerk überhaupt. Denn jedes einzelne Neuron ist eine Messstation. Das Gehirn wird von jeder seiner hundert Milliarden Nervenzellen darüber in Kenntnis gesetzt, ob die von ihm bestellte Energie eingetroffen ist. Dabei gibt es noch eine raffinierte Besonderheit: Die Neuronen des Hypothalamus liegen ja im autonomen System des Gehirns, das für unsere lebenswichtigen Körperfunktionen (Herzschlag, Atmung usw.) verantwortlich ist. Ausgerechnet diese lebenswichtigen Neuronen werden schlechter mit Glukose versorgt als der Rest des Gehirns. Was auf den ersten Blick wie eine Fehlkonstruktion wirkt, ist elementarer Bestandteil des Kontrollsystems. Denn die bei der Energiezuteilung benachteiligten Neuronen können als Erste auf eine Verschlechterung der Energieversorgung reagieren und fungieren so als hochempfindliches Frühwarnsystem. Hat die Natur an dieser Stelle also möglicherweise auf die alte Idee mit den zwei Sensoren zurückgegriffen?
An der Universität Lübeck gingen wir in unserer Forschergruppe dieser Frage nach. Die Vermutung bestätigte sich – allerdings wurde das Prinzip, wie so oft in der Evolutionsgeschichte, verändert und angepasst: Es finden sich auch in den Nervenzellen des Gehirns jeweils zwei Sensoren, plus und minus. Das Funktionsprinzip ist ebenfalls selbstähnlich. Im Gehirn sind es Kaliumkanäle, die die Versorgung der Zellen mit dem Energieträger ATP messen. Es gibt einen empfindlichen Sensor (1) und einen unempfindlicheren (2). Ist Sensor 1 besser als Sensor 2 in der Lage, ATP zu binden, erfolgt durch diese Ungleichheit das Signal: »Energieknappheit«. Jetzt wird Glukosenachschub geordert. Wenn aber auch der unempfindlichere Sensor 2 in der Lage ist, ATP zu binden, wird sein Signal stärker als das von Sensor 1. Und diese Ungleichheit ist wiederum das Signal, das »Energieüberschuss« meldet, die Glukoseanforderung wird gestoppt.
Hier gibt es nun allerdings einen wesentlichen Unterschied zum Pantoffeltierchen-Modell: Bei ihm befinden sich die Sensoren auf einer Zelle. Die Energie-Messfühler im Gehirn sitzen dagegen auf zwei Neuronen – Sensor 1 auf einem Glutamat-Neuron, Sensor 2 auf einem GABA -Neuron. Glutamat ist bereits ein guter Bekannter: Es ist der Stoff, mit dem eine Nervenzelle Glukosenachschub ordert. GABA hingegen ist der wichtigste hemmende Botenstoff unseres Nervensystems. Er stellt die Zelle ruhig und storniert so weitere Energiebestellungen. Auf ein Auto übertragen hieße das: Wenn Sensor 1 das Gaspedal ist, stellt Sensor 2 die Bremse dar.
Das Wechselspiel dieser beiden Botenstoffe im Gehirn hat zum Ziel, ein Energiegleichgewicht in den Nervenzellen zu erreichen. Wenn die beiden Kräfte Glutamat und GABA sich aufheben, ist der energetische Idealzustand erreicht. Biologen und Mediziner nennen ihn Homöostase (das physiologische Streben nach Gleichgewicht). Das »Prinzip der Homöostase« beschreibt, wie zwei unterschiedliche Sensoren einen biologischen Gleichgewichtszustand einstellen. Mit dem Nachweis, dass das »Prinzip der Homöostase« auch für die ATP -Regulation im Gehirn gilt, gelang es der Lübecker Forschergruppe, den ersten Grundsatz der Selfish-Brain-Theorie – das Gehirn reguliert zuerst seinen eigenen Energiefüllstand – experimentell zu untermauern.
Sind die Neuronen optimal mit Energie versorgt, belohnen sie uns: mit einem »Wohlfühlschwebezustand« im Ozean unseres Körpers. Dieses Befinden ist das, was wir als Entspannung oder Ausgeglichenheit erleben. Es ist für uns als Mensch im Ganzen so erstrebenswert wie für jedes einzelne unserer Neuronen. Sie geben dabei wie ein Dirigent den Takt vor. Nur wenn sich jedes Neuron in der »energetischen Homöostase« befindet, fühlen wir uns insgesamt als Mensch wohl.
Es mag verblüffen, dass sich ein so direkter Zusammenhang zwischen dem Wohlbefinden einer Hirnzelle und unserem persönlichen Seelenzustand herstellen lässt. Aber ein Blick ins Labor verdeutlicht, wie groß die Kraft ist, die im Energiehaushalt der Neuronen steckt: In einer Laborschale befinden sich Nervenzellverbände aus einer Gehirnprobe. Sie werden mit einer Glukosenährlösung, die genau auf den Energiebedarf der Probe abgestimmt ist, versorgt. Verdünnt man nun diese Lösung mit Wasser, entsteht rasch ein kritischer Energiemangel. Die Zellen beginnen wie verrückt, Aktivität zu entwickeln, sie feuern, geben hektische Glutamatsignale zur
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