Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
Körper. Bei einem inkompetenten Brain-Pull bleibt dem Gehirn nur noch die Energie eines halben Brötchens, eineinhalb verschwinden in den Körperdepots. Was also wird das Gehirn tun? Nach mehr Nahrung verlangen – entweder sofort oder später, in Form eines Snacks oder einer Zwischenmahlzeit. Dann bekommt es sein ganzes Brötchen, aber drei gelangen unterdessen ins Fettgewebe. Das bleibt auf Dauer nicht ohne Folgen: Der Körperumfang wächst.
Genetische Disposition, Fehlernährung, Nahrungsüberangebot, psychische Probleme – verschiedene Vorstellungen über mögliche Ursachen von Übergewicht konkurrieren um wissenschaftliche Anerkennung. Doch fragt man einen Arzt nach der Ursache für die eigene Gewichtszunahme, wird man kaum eine schlüssige Antwort erhalten.
Dabei lässt sich zumindest die Wahrscheinlichkeit, übergewichtig zu werden, schon bei jungen Menschen verblüffend exakt vorhersagen. In den 1980er Jahren startete Morten Rostrup eine aufschlussreiche Langzeitstudie. Er unterzog Rekruten der norwegischen Armee mehreren Stresstests. Die Probanden, normalgewichtige, gesunde, junge Männer, wurden körperlichem Stress wie Kälte und Lärm sowie psychosozialem Stress (Überforderung durch schwer zu bewältigende Aufgaben) ausgesetzt. Rostrup entnahm den jungen Soldaten Blutproben und analysierte diese auf die Ausschüttung des Stresshormons Adrenalin. Es fielen ihm bei den Testpersonen zwei Typen mit unterschiedlichen Reaktionsmustern auf. Der eine Typ wies eine starke Stressantwort auf (hohe Adrenalinwerte im Blut). Der andere zeigte eine niedrige Adrenalin-Antwort. Rostrup beobachtete seine Testteilnehmer über einen Zeitraum von 18 Jahren und kontrollierte deren Gewicht. Das Ergebnis war eindeutig: Übergewichtig wurden hauptsächlich Männer des zweiten Typs. Rostrups Studie ist ein wichtiger Beleg für die Gültigkeit der Selfish-Brain-Theorie in Bezug auf die Entstehung von Adipositas: Nur ein starker Brain-Pull und ein intaktes Stresssystem stellen die optimale Energieversorgung von Gehirn und Körper sicher und verhindern so ein Volllaufen der Fettspeicher.
Was Rostrups Studie aber nicht beantworten konnte, war die Frage nach der Kontrolle des Essverhaltens dieser Männer. Inwiefern unterschied es sich zwischen denjenigen, die dick wurden, und denen, die schlank blieben? Dazu lieferte der Neurologe Barry Levin eine interessante Antwort in einem Tierexperiment. Levin setzte zwei verschiedene Rattenstämme (der eine mit starker Stressantwort, der andere mit schwacher) auf eine hochkalorische Diät. Auch in diesem Experiment wurden nur die Tiere übergewichtig, deren Stresssystem schwach reagierte. Die andere Gruppe blieb schlank. Trotz des überreichen Nahrungsangebots fraßen die Tiere mit den starken Stressantworten weniger als ihre Artgenossen in der Vergleichsgruppe. Levins Versuch bestätigte: Nager mit einem intakten Stresssystem und kompetenter Brain-Pull-Funktion lassen sich nicht mästen. Ihr Energiefluss bleibt intakt. Ähnliche Ergebnisse hatte bereits in den 1960er Jahren das von Ethan Sims durchgeführte »Vermont Prison Experiment« geliefert, bei dem der Einfluss von energiereicher Ernährung auf die Gewichtsentwicklung von Gefängnisinsassen untersucht worden war. Die Gefangenen sollten 25 Prozent ihres Körpergewichts zunehmen, als Belohnung lockte eine frühzeitige Entlassung aus dem Gefängnis. Viele konnten das Ziel jedoch nicht erreichen, sosehr sie sich auch abmühten … Sims Schlussfolgerung: Für einige Menschen ist es einfach unmöglich, übergewichtig zu werden!
Und genau das führt uns nun zurück zum Problem des Verkehrsstaus. Wie in der Lieferkette am Fließband muss es auf einer Straße bei unauffälligem Verkehrsaufkommen einen Engpass geben, um einen Stau zu verursachen. Dieses Lieferkettenmodell hat Dirk Langemann für den Brain-Pull im menschlichen Organismus berechnet und dargestellt. Am Ende steht ein mathematischer Beweis, dass einer solchen Lieferkette folgende Eigenschaft innewohnt: Je stärker der Brain-Pull, desto geringer die Fettdepots. Das gilt auch umgekehrt: Je schwächer der Brain-Pull, desto voller die Fettdepots. Der Fluss in der Lieferkette staut sich zurück – vom Engpass im Gehirn über das Blut in die Fettspeicher des Körpers.
Damit ist zwar die Frage, was die Brain-Pull-Störung verursacht, noch nicht geklärt. Aber das Prinzip, wie Übergewicht entsteht, wird deutlich – und es gilt uneingeschränkt. Um es unmissverständlich zu sagen:
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