Das egoistische Gehirn: Warum unser Kopf Diäten sabotiert und gegen den eigenen Körper kämpft (German Edition)
Jeder Mensch, der übergewichtig ist, hat einen inkompetenten Brain-Pull. Wendet man diese Erkenntnis konsequent an, werden viele Überlegungen zur Entstehung von Übergewicht zum Mythos. So hat das Überangebot an Nahrung praktisch kaum einen direkten Einfluss darauf, ob ein Mensch dick wird – vorausgesetzt, sein Brain-Pull ist intakt. Wenn wir also mehr essen, dann nicht deshalb, weil wir genusssüchtig, faul oder charakterschwach sind, sondern ausschließlich, weil der Energiebedarf des Gehirns mit normalem Essverhalten nicht mehr gedeckt werden kann. Alle Heißhungerattacken, unbezähmbaren Lustgefühle, suchtähnlichen Gedanken ans Essen sind nur die Folge und Ausdruck dieser permanenten Energiekrise des Gehirns. Um dieser Lage Herr zu werden, macht das Gehirn nichts anderes, als zu versuchen, durch verstärkte Mehranforderung in Kombination mit empfindlichen Einsparungen einen ernsthaften Energiemangel in den Neuronen zu verhindern. Heißhunger und Lust aufs Essen sind die emotionalen Köder, die unser Gehirn auswirft, um uns dazu zu bringen, die für den Hirnstoffwechsel benötigte Energie aufzunehmen – immer wieder, Tag für Tag und in extremen Fällen sogar nachts.
Die Langzeitstudie an den norwegischen Rekruten hat gezeigt, dass eine schlechte Adrenalin-Stressantwort im psychosozialen Stresstest langfristig das Risiko für die Entstehung von Übergewicht erhöht. Stresstests sind allerdings eine recht aufwendige Methode, um festzustellen, wie sich das Körpergewicht eines Menschen entwickeln wird. Es existiert aber auch ein sehr viel einfacherer Marker, der klare Hinweise auf die Gewichtsentwicklung gibt: der Nüchtern-Insulinwert. Insulin gibt als Speicherhormon des Körpers Auskunft darüber, wie Energie verteilt wird. Hohe Insulinwerte zeigen an, dass die Botschaft, die Speicherdepots zu öffnen, um Energie einzulagern, den Körper überflutet. Tatsächlich haben viele Menschen erhöhte Blutinsulinwerte. Schätzungsweise jeder zweite erwachsene Deutsche ist davon betroffen, die meisten ohne es zu wissen. Da die Bestimmung von Blutinsulinwerten nicht zum Standardrepertoire eines Gesundheitschecks beim Arzt gehört, bleiben erhöhte Werte meist lange unentdeckt. Dabei ist erhöhtes Blutinsulin nicht nur ein klares diagnostisches Zeichen für einen inkompetenten Brain-Pull (das Gehirn kann die übermäßige Insulinausschüttung nicht mehr kontrollieren), sondern es zeigt auch das stark erhöhte Risiko an, in den nächsten Jahren an Gewicht zuzulegen und mit hoher Wahrscheinlichkeit an Typ-2-Diabetes zu erkranken.
Allein in Deutschland erkranken pro Jahr schätzungsweise 300 000 Menschen an Typ-2-Diabetes. »Schätzungsweise« deshalb, weil die Krankheit oft erst spät erkannt wird und die Dunkelziffer dementsprechend hoch ist. Ist die Diagnose aber erst einmal gestellt, beginnen die therapeutischen Maßnahmen meist in dieser Reihenfolge: mehr Bewegung, oder besser noch Sport, abnehmen, Medikamente einnehmen, um den Blutzucker zu senken. Typ-2-Diabetes ist eine Erkrankung mit langen und in der Regel langsamen Verläufen. Aber irgendwann kommt für die meisten Patienten der Zeitpunkt, an dem der Arzt Insulinspritzen verordnet. Aber ist es überhaupt der richtige Ansatz, den Blutzucker dieser Patienten mit Tabletten oder Insulin auf Normalwerte abzusenken? Man sollte meinen, dass eine Therapie, die seit über fünfzig Jahren weltweit millionenfach angewendet wird, dementsprechend überprüft, bestätigt und abgesichert worden ist; und vor allem, dass sie sich im Vergleich konkurrierender Ideen deshalb durchgesetzt hat, weil sie richtig ist. Das entspricht leider nicht unbedingt der Realität. Die Gründe, warum die eine wissenschaftliche Theorie anerkannt wird und eine andere scheitert, sind vielschichtig. Neben streng wissenschaftlichen Aspekten spielen auch der Zeitgeist, die politischen Machtverhältnisse oder wirtschaftliche Interessen entscheidende Rollen. Wie in allen menschlichen Angelegenheiten, ist auch die Forschung zuweilen Irrungen und Wirrungen ausgesetzt – wie in dem vorliegenden Fall, bei dem eine mehr als hundert Jahre zurückliegende wissenschaftliche Auseinandersetzung bis heute gravierende Konsequenzen für alle Menschen nach sich zieht, die an Typ-2-Diabetes erkrankt sind.
Diabetesmedizin auf dem Prüfstand
Die Geschichte der Diabetesmedizin beginnt in Deutschland mit einem Streit zwischen zwei Gelehrten. Einer von ihnen ist der junge Wissenschaftler Oscar Minkowski. Er führt
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