Das egoistische Gen
Nehmen wir an, ein Mitglied dieses Schwarmes sieht den Falken, die übrigen haben ihn aber noch nicht gesehen. Dieses eine scharfäugige Individuum könnte sofort erstarren und sich ins Gras ducken.
Doch würde ihm das wenig nützen, weil seine Kumpane immer noch auffällig und lärmend herumspazierten. Jeder von ihnen könnte die Aufmerksamkeit des Falken erregen, und dann wäre der ganze Schwarm in Gefahr. Von einem rein egoistischen Standpunkt aus ist es für das Individuum, welches den Falken zuerst erspäht, die beste Politik, seinen Kumpanen einen raschen Warnruf zuzuzischen, sie damit zum Schweigen zu bringen und so die Wahrscheinlichkeit zu verringern, daß sie den Falken unbeabsichtigt in seine Nähe rufen.
Die zweite Theorie, die ich erwähnen möchte, folgt dem Prinzip „Verlaß niemals Reih und Glied“ oder „Tanz niemals aus der Reihe“. Sie eignet sich für Vogelarten, die beim Herannahen eines Räubers im Schwarm davonfliegen, vielleicht auf einen Baum. Stellen wir uns wieder vor, daß ein Individuum aus einem Schwarm fressender Vögel einen Räuber erspäht hat. Was soll es tun? Es könnte einfach selbst davonfliegen, ohne seine Gefährten zu warnen. Doch dann wäre es ein einzelner Vogel, nicht mehr Teil eines relativ anonymen Schwarmes, sondern ein Außenseiter. Falken sind in der Tat dafür bekannt, daß sie auf einzelne Tauben Jagd machen, aber selbst wenn dies nicht so wäre, gäbe es viele theoretische Gründe für die Ausnahme, daß Ausscheren aus Reih und Glied eine selbstmörderische Taktik sein dürfte. Selbst wenn seine Gefährten ihm schließlich folgen, vergrößert das Individuum, das als erstes vom Boden auffliegt, vorübergehend seine Gefahrenzone. Gleichgültig, ob Hamiltons spezielle Theorie richtig oder falsch ist, irgendeinen bedeutenden Vorteil muß das Leben im Schwarm bieten, sonst würden die Vögel sich nicht zusammentun. Welches auch immer jener Vorteil sein mag, das Individuum, das den anderen voraus den Schwarm verläßt, wird dieses Vorteils zumindest zum Teil verlustig gehen. Wenn der wachsame Vogel also nicht aus der Reihe tanzen darf, was soll er dann tun? Vielleicht sollte er einfach weiterfressen, als ob nichts geschehen wäre, und sich auf den Schutz verlassen, den die Zugehörigkeit zum Schwarm ihm verleiht. Aber auch das ist mit einem schweren Risiko verbunden. Er ist ja noch draußen im offenen Feld und so aufs höchste gefährdet. Oben auf einem Baum wäre er viel sicherer. Die beste Politik besteht tatsächlich darin, auf einen Baum hinaufzufliegen, aber gleichzeitig sicherzustellen, daß alle anderen dies auch tun. Auf diese Weise wird er nicht zu einem Außenseiter und braucht nicht auf die Vorteile zu verzichten, Mitglied im Schwarm zu sein, er gewinnt aber dennoch den Vorteil, in Deckung fliegen zu können. Wieder sieht man, daß das Ausstoßen eines Warnrufes einen rein egoistischen Nutzen bringt. E. L. Charnov und J. R. Krebs haben eine ähnliche Theorie aufgestellt, in der sie sogar so weit gehen, für das, was der den Ruf ausstoßende Vogel mit dem restlichen Schwarm macht, das Wort „Manipulation“ zu benutzen. Damit sind wir meilenweit von einem reinen, selbstlosen Altruismus entfernt!
Auf den ersten Blick mag es so aussehen, als seien diese Theorien mit der Feststellung unvereinbar, daß das den Alarmruf ausstoßende Individuum sich selbst in Gefahr bringt.
Tatsächlich gibt es jedoch keinerlei Unvereinbarkeit. Der Vogel würde sich, wenn er nicht riefe, noch größerer Gefahr aussetzen. Manche Vögel sind gestorben, weil sie Alarmrufe ausgestoßen haben, vor allem diejenigen, deren Rufe leicht zu lokalisieren waren. Andere wiederum sind gestorben, weil sie nicht gerufen haben. Die „Nimm dich in acht“-Theorie und die „Tanz niemals aus der Reihe“-Theorie sind nur zwei unter vielen, die erklären warum.
Wie steht es nun mit der springenden Thomsongazelle, die ich im ersten Kapitel erwähnt habe und deren anscheinend selbstmörderischer Altruismus Ardrey zu der kategorischen Feststellung verleitete, er lasse sich nur mit Hilfe der Gruppenselektion erklären? Hier hat die Theorie vom egoistischen Gen es mit einer größeren Herausforderung zu tun. Die Alarmrufe der Vögel erfüllen ihren Zweck, aber sie sind eindeutig so strukturiert, daß sie möglichst unauffällig und vorsichtig wirken können. Nicht so die Prellsprünge der Gazellen. Sie sind derart auffällig, daß sie beinahe schon eine ausgesprochene Provokation darstellen. Es
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