Das egoistische Gen
nehmen wir jetzt an, es trete ein Betrüger in der Population auf. Da er der einzige Betrüger ist, kann er damit rechnen, daß er von allen anderen gesäubert wird; er selbst zahlt aber nichts zurück. Seine durchschnittliche Prämie liegt höher als der Durchschnitt für einen Betrogenen. Daher werden sich Betrügergene in der Population auszubreiten beginnen. Betrogenengene werden bald ausgerottet sein. Das liegt daran, daß die Betrüger immer besser abschneiden als die Betrogenen, unabhängig von ihrem Anteil an der Gesamtpopulation. Betrachten wir beispielsweise den Fall, daß die Population zu je 50 Prozent aus Betrogenen und Betrügern besteht. Die durchschnittliche Prämie wird sowohl für Betrogene als auch für Betrüger geringer sein als für ein Individuum in einer Population aus 100 Prozent Betrogenen. Aber die Betrüger werden immer noch besser abschneiden als die Betrogenen, da sie alle Vorteile – welche auch immer – erhalten und nichts vergelten. Wenn der Anteil der Betrüger 90 Prozent erreicht, wird die durchschnittliche Prämie für alle Individuen sehr niedrig: Viele aus beiden Kategorien mögen inzwischen an der von den Zecken übertragenen Infektion erkrankt sein und im Sterben liegen. Aber immer noch schneiden die Betrüger besser ab als die Betrogenen. Selbst wenn die Population schließlich auszusterben droht, werden die Betrogenen zu keinem Zeitpunkt besser abschneiden als die Betrüger. Solange wir also nur diese beiden Strategien in Betracht ziehen, kann nichts die Ausrottung der Betrogenen und sehr wahrscheinlich sogar den Untergang der gesamten Population aufhalten.
Nehmen wir jetzt aber an, es gäbe noch eine dritte Strategie, die wir den „Nachtragenden“ nennen. Nachtragende säubern Fremde und Individuen, von denen sie zuvor gesäubert worden sind. Wenn jedoch ein Individuum sie betrügt, so vergessen sie den Vorfall nicht und ärgern sich: In Zukunft weigern sie sich, dieses Individuum zu säubern. In einer Population aus Nachtragenden und Betrogenen kann man unmöglich feststellen, wer was ist. Beide Typen verhalten sich jedem gegenüber altruistisch, und beide verdienen die gleiche hohe Durchschnittsprämie. In einer weitgehend aus Betrügern bestehenden Population wäre ein einziger Nachtragender nicht sehr erfolgreich. Er würde sehr viel Energie darauf verwenden, die Mehrzahl der Individuen, die er trifft, zu säubern – denn es würde eine Weile dauern, bis er über sie alle verärgert ist.
Andererseits würde niemand ihm als Gegenleistung die Parasiten entfernen. Wenn die Nachtragenden im Verhältnis zu den Betrügern selten sind, wird das Gen für Nachtragen aussterben. Ist es den Nachtragenden aber erst einmal gelungen, ihre Zahl bis auf einen kritischen Anteil an der Population zu vergrößern, dann wird ihre Chance, auf ihresgleichen zu treffen, so groß, daß die mit der Hautpflege von Betrügern vergeudete Anstrengung ausgeglichen wird. Ist dieser kritische Prozentsatz erreicht, so beginnen sie durchschnittlich höhere Prämien zu kassieren als die Betrüger, und diese werden sich mit zunehmender Geschwindigkeit dem Aussterben nähern.
Kurz bevor die Betrüger verschwunden sind, wird ihr Rückgang langsamer, und als eine Minderheit können sie ziemlich lange überleben. Das liegt daran, daß für jeden einzelnen seltenen Betrüger die Wahrscheinlichkeit, zweimal auf denselben Nachtragenden zu treffen, nur klein ist: Daher wird in der Population der Anteil der Individuen, die gegen einen bestimmten Betrüger einen Groll hegen, klein sein.
Ich habe das Schicksal dieser Strategien so dargestellt, als ob intuitiv kein Zweifel daran bestehen könne, was geschehen würde. In Wirklichkeit ist dies keineswegs derart offensichtlich, und ich habe die Abläufe sicherheitshalber im Computer simuliert, um zu überprüfen, ob die Intuition richtig war. Es stellt sich heraus, daß Nachtragender in der Tat eine evolutionär stabile Strategie gegenüber Betrügern und Betrogenen ist in dem Sinne, daß in eine weitgehend aus Nachtragenden bestehende Population weder Betrüger noch Betrogene eindringen werden. Doch Betrüger ist ebenfalls eine ESS, weil es keinem Nachtragenden und auch keinem Betrogenen gelingen wird, in eine überwiegend aus Betrügern bestehende Population einzuwandern. Eine Population könnte jede dieser beiden evolutionär stabilen Strategien dauerhaft verfolgen; langfristig gesehen könnte sie sogar zwischen ihnen wechseln. Je nach den genauen
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