Das Ei und ich
Nein! Worüber hatte ich mich dann zu beklagen?
Außer mit Lesen beschäftigte ich mich in meiner freien Zeit auch mit Schreiben. Ich schrieb gern und viel an alle möglichen Leute und wunderte mich, daß ich, die ich doch herzlich wenig zu sagen hatte, so lange Episteln zusammenbekam, während sich erhabene Geister wie William Lyon Phelps mit wenigen gehaltvollen Zeilen begnügten. Unter meinen Briefen befand sich jeden Monat pünktlich auch einer von der »lieben Großmama«, die mich »Mein liebes, kindliches Frauchen« anredete, was ich abscheulich fand, weil es den Eindruck erweckte, als spräche sie zu einem zehnjährigen Mädchen mit Hängezöpfchen, das von einer behaarten Bestie mit Gewalt zum Traualtar geschleppt worden war. Dummerweise ließ ich es mir einfallen, heimzuschreiben, man möge doch die liebe Großmama schonend davon benachrichtigen, daß ich ihr sehr verbunden wäre, wenn sie mich normal mit meinem Vornamen betiteln würde. Meine Mutter schrieb mir vernünftig zurück, ich solle doch der alten Dame das Vergnügen lassen. Mir könnte es gleich sein, und ihr tue es anscheinend wohl. Aber meine Geschwister stürzten sich gleich auf die Gelegenheit, mich ärgern zu können, und überschrieben in Zukunft ihre Briefe ebenfalls mit »Liebes, kindliches Frauchen«.
Einmal mußte Bob geschäftlich wegfahren und ließ mich eine Nacht allein zu Hause. Das heißt, er glaubte, er habe mich allein gelassen. Es war ein schwüler Sommertag, und schon während meines abendlichen Rundganges durch die Ställe zogen sich am Himmel dunkle Wolken zusammen und verhüllten drohend die Bergspitzen. Bei der Rückkehr von meinem letzten Inspektionsgang zum Bruthaus fand ich Elwin auf einem seiner Autowracks thronend im Hof. »Maw sagt, ’s wird ’nen Sturm geben, und Sie sollen Ihr Zeug nehmen und über Nacht zu uns rüberkommen. Wegen der Hühner und so, das macht nichts, ich bring Sie morgen wieder zeitig her.«
Ich war sehr gerührt über diesen Beweis nachbarlicher Freundschaft, aber der Gedanke an die meiner im Hause Kettle harrende Schlafstätte erfüllte mich mit leisem Unbehagen.
Meine Befürchtung war unbegründet. Mrs. Kettle führte mich ins Gästezimmer hinauf, wo ein breites Messingbett stand, über dem einer von Maws gewürfelten Prunküberzügen lag. Die Vorhänge vor den Fenstern waren sauber, auf der Kommode prangte eine Toilettengarnitur, ein rosarotes Stecknadelkissen, ein Bilderrahmen (ein unter der Bezeichnung »Luxusartikel« figurierender Gegenstand der farbigen Kataloge von Sears-Roebuck) und eine Vase mit Rosen aus Kreppapier. Das Zimmer war wunderhübsch und sehr gemütlich bei dem schlechten Wetter. Draußen ballten sich die Wolken zusammen, der Donner grollte, und der Wind zauste die Baumkronen. Mrs. Kettle öffnete den Schrank und zeigte mir die vielen, auf Vorrat verfertigten Würfeldecken, die ersten Schuhchen ihrer Sprößlinge und eine Locke von jedem Kind. Die Kommodenschubladen waren angefüllt mit Weihnachtsgeschenken, jedes noch in der ursprünglich bunten Schachtel. Nachthemden gab es da mit steifen, bebänderten Einsätzen, Handtücher und Waschtischgarnituren, Besuchstücher und gehäkelte Tellerdecken. Noch während wir beim Besichtigen dieser Herrlichkeiten waren, entlud sich das Gewitter; die Blitze zuckten über den Himmel, und der Regen prasselte auf das Dach über unseren Köpfen. Mrs. Kettle mußte schnell hinunterlaufen, um die einzelnen Tropfgefäße zu holen, da das Dach seit zehn Jahren leckte und Paw noch nicht dazu gekommen war, die durchlässigen Stellen abzudichten. Der Wind riß Jahr für Jahr mehr Schindeln weg, die Löcher vergrößerten sich, und nun mußte Maw eine ganze Menagerie Töpfe und Krüge auf dem oberen Gang aufstellen, sobald es regnete. Anne und mir wurden zwei alte Kaffeekannen zugewiesen, eine gehörte ans Bettende und die andere neben den Schrank. Als ich die Kleine auszog und für die Nacht zurechtmachte, tropfte der Regen in einer hübschen, kleinen Melodie in die beiden Kaffeekannen.
Nachdem Anne ihr Fläschchen bekommen hatte und eingeschlafen war, ging ich zu den Kettles und leistete ihnen Gesellschaft. Das Tagewerk war erledigt, sie saßen friedlich vereint um den Küchentisch, lasen die Lokalnachrichten und unterhielten sich über den Tanzabend, zu dem die älteren Kettlebuben gehen wollten, obwohl er an die siebzig Meilen entfernt stattfand. Der einzige fahrbereite Wagen besaß keine Scheinwerfer, und Elwin schien die Bergstraße
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