Das einsame Herz
Er schoß hinter seinem Pult hervor an die Seite von Seditz'.
»Herr Kummer«, zischte er. »Sind Sie von Sinnen?! Sie haben den Herren zu antworten!«
»Sie sind nicht mein Vormund«, sagte Otto Heinrich laut. »Ich antworte dort, wo ich es verantworten kann!«
»Mischen Sie sich bitte nicht in das Verhör«, wandte sich Seditz an den Apotheker. »Ich verhöre Sie später genau!«
Dieser letzte Satz machte Knackfuß kampfunfähig. Gesenkten Hauptes ging er wieder hinter sein Stehpult, stützte den Kopf in beide Hände und grübelte nach, daß es seit drei Generationen das erstemal war, daß sein ehrbarer Name in einer Gerichtsakte stand.
Unterdessen hatte Seditz ein Taschenbuch aus dem Mantel genommen und blätterte darin herum.
»Ihr Herr Vater stand unter einem gefährlichen Verdacht«, sagte er dabei. »Seine Majestät haben ihm zeitweilig Seine Gnade entzogen. Die Spionage der Madame de Colombique, die Ihr Herr Vater in den Hof einführte, umfaßte nicht nur die militärischen, sondern auch die staatshaushaltlichen Geheimnisse. Eine böse Affäre für Sachsen!« Er machte eine Pause und blickte dann auf.
»Sie kennen einen Willi Bendler?«
Der Name Bendler riß den sinnenden Knackfuß empor.
»Ein Volksaufwiegler«, rief er. »Flüchtete, um …«
»Ich fragte Herrn Kummer«, unterbrach ihn hart von Seditz.
»Erlauben Euer Gnaden – aber ich kenne ihn besser. Er ist ein Revolutionär, ein gefährliches Subjekt. Ich fand auf seinem Tisch die berüchtigten ›Pfefferkörner‹ des Freiherrn von Maltitz!«
»Ein großer Irrtum«, man merkte es Seditz an, daß es ihm eine tiefe Freude war, den Apotheker zu belehren. »Die ›Pfefferkörner‹ sind nicht berüchtigt, sondern berühmt, und außerdem sind sie hervorragend und dürften Ihnen zeigen, daß eine neue Zeit sich abzeichnet. Aber das verstehen Sie vielleicht nicht!« Und zu Otto Heinrich gewandt, fuhr er fort: »Sie kennen Willi Bendler?«
»Ja.« Kummer nickte, sah aber fragend auf Seditz, da er mit dieser Frage nicht gerechnet hatte. »Wir wohnten hier im Hause zusammen in einer Bodenkammer. Er war ein guter Kamerad mit einem wahren Charakter, der nichts mehr haßte als das Spießertum! Mit dem Prinzipal lag er ständig im Streit …«
»Das kam so«, unterbrach Knackfuß mit einem wütenden Blick auf Kummer eilig. »Besagter Bendler, impertinent …«
»Ich fragte Herrn Kummer«, schnitt von Seditz ihm das Wort ab. »Ich darf Sie um Ruhe ermahnen. Es sollte mir leid tun, Sie aus Ihrem eigenen Kontor weisen zu müssen. – Erzählen Sie weiter, Herr Kummer.«
»Diese Streitigkeiten aber waren stets nichtiger Natur. Mehr plagte ihn der Drang nach menschlicher und seelischer Freiheit, der Drang nach einem Ideal, das der Idee der Französischen Revolution ein Denkmal setzt: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit! Aus diesem Drang heraus floh er eines Nachts. Seitdem hörte ich nichts mehr von ihm.«
»Danke, das genügt mir.« Seditz wandte sich an seine drei Begleiter.
»Haben Sie die Aussage, meine Herren?«
»Wort für Wort.«
»Danke.« Er wandte sich wieder an Otto Heinrich und lächelte. »Ich habe Ihnen in diesem Zusammenhang eine Mitteilung zu machen. Auf der Route Potsdam – Küstrin fand man vor wenigen Tagen eine Leiche, die man offensichtlich in einer Postkutsche erstach und aus dem fahrenden Wagen warf. Der Körper zeigte einige Schleifwunden und einen exakten Stich in das Herz. An die Leiche geheftet fand man einen Zettel mit den Worten: ›Tod allen Verrätern und Spionen! Es lebe die freie Gerechtigkeit, es lebe die Zukunft der Wahrheit. B.‹ Unsere Forschungen mit den Berliner Kollegen ergaben, daß ein Willi Bendler der Führer einer Art Freikorps ist, das sich als Ziel nimmt, gegen das Unrecht zu kämpfen. Wir vermuteten, und das erwies sich als richtig, daß die Leiche ein Opfer dieser Freischar war. Es wird Sie aber noch mehr erstaunen, wer das Opfer war: die Madame de Colombique!«
Ein Ruf des Erstaunens flatterte aus Kummers Lippen. Aber bevor er etwas sagen konnte, fuhr Seditz fort.
»In der Innentasche, eingenäht in das Futter des Mantels, fand man einen Packen wichtiger Geheimpapiere, Spionageberichte, Aufträge, Korrespondenzen und Adressen, die es uns ermöglichten, ein breitangelegtes Spionagenetz einzuziehen und alle Auftraggeber der interessierten fremden Macht zu kennen. Bei den Papieren fand man aber auch den Beweis, daß in Dresden der Hofkämmerer Baron von Kracht die Spionage mit Nachrichten
Weitere Kostenlose Bücher