Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das einzig glueckliche Ende einer Liebesgeschichte ist ein Unfall

Das einzig glueckliche Ende einer Liebesgeschichte ist ein Unfall

Titel: Das einzig glueckliche Ende einer Liebesgeschichte ist ein Unfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joao Paulo Cuenca
Vom Netzwerk:
regnen.
    Der Zug hält.
    Die Landschaft, die wir durch das Fenster sehen, hört auf, ein Gewirr waagrechter Striche zu sein, und gefriert zu beleuchteten Umrissen hinter dem Regen. Neben der Brücke, über die die Yamanote-Linie der Metro führt, steht eine Mauer aus Gebäuden und Einkaufspassagen. Über allem wirbt eine große Reklame aus Neonröhren für Suppe. Die einzigen Fenster, deren Gardinen nicht zugezogen, deren Scheiben nicht verdunkelt sind, befinden sich im fünften Stock des geschwungenen Gebäudes rechts. Dort probt in der Mitte des Raums eine Gruppe kleiner Tänzerinnen eine Choreografie, während andere ihre Beine an einer Metallstange dehnen. Die Bewegung der Mädchen ist so rein, dass ich Iulana Romiszowskas Schulter berühren will, um den Anblick der Tänzerinnen mit ihr zu teilen.
    Der Weg meiner Hand zu ihrem Körper wird unterbrochen, als sich plötzlich mit einem Ruck das Bild weiterbewegt und sich das Fenster mit den Mädchen allmählich entfernt.
    Als wir ankommen, verschwinden die Wolken am Himmel, als hätte es niemals geregnet.
    Am Eingang zum Zoo kaufe ich eine riesige Tüte Popcorn für Iulana Romiszowska. Sie wirkt wie eine weiße Straßenlaterne zwischen all den Kindern, die sich anrempeln und mit ihren kleinen Schuhen über den Kies schlurfen, immer der roten Fahne ihrer Lehrerin nach. Neben ihr bin ich eines dieser Kinder im Zoo, das der roten Fahne der Lehrerin folgt. Neben ihr ist die Welt bevölkert von Kindern im Zoo, die der roten Fahne der Lehrerin folgen.
    Um meinem Unbehagen zu entrinnen, sage ich vor dem Paviankäfig:
    „Immer wenn ich im Zoo bin, denke ich, wir würden ausgestellt. Und die Tiere betrachten uns. Sie sind hinter Gittern, doch wir werden von etwas viel Größerem gefangen gehalten.“
    Eine Pause. Schließlich schiebt sich ein Baum vor die Sonne.
    „Willst du damit sagen, dass sie kein Bewusstsein haben?“
    „Nein, die Tiere besitzen Bewusstsein, sie haben nur keinen Verstand.“
    „Mit diesem Gelehrtengeschwätz beeindruckst du mich nicht.“
    „Sie schauen uns an, als wären wir ein Teil von ihnen, ein neuer Schwanz, eine fünfte Pfote, die ihnen vorher nie aufgefallen ist. Wenn man sich des eigenen Selbst nicht bewusst ist, ist alle Welt Teil davon. Hinter ihren leeren Augen steckt die ganze Welt. Verstehst du, was ich meine?“
    Irgendwie ist Iulana Romiszowska wie diese Tiere, zumindest seit sie in Japan ist. Von der Sprache versteht sie gerade so viel, dass sie danken, Getränke anbieten, Bestellungen aufnehmen, sich beim Aussteigen aus der Metro entschuldigen kann. Sie ist beinahe komplette Analphabetin: Ihr Verständnis von dem, was sie in Japan umgibt, dürfte geringer sein als das der Kinder auf ihrem Ausflug hier durch den Zoo.
    Was diese nicht daran hindert, der Frau staunend hinterherzuschauen.
    „Ich verstehe das schon“, sagt Iulana, nachdem sie ihre Limonade durch einen Strohhalm gesaugt und dabei die kräftigen Wangen zusammengezogen hat. „Und je weniger man sich dessen bewusst ist, was man tut, desto mehr tut man, was man möchte. Es ist fast so etwas wie Macht. Ich beneide die Tiere nicht. Du schon, glaube ich.“
    „Vielleicht hast du recht! Manchmal würde ich gern über nichts nachdenken müssen. Einfach nur sein und Bananen essen und mit den Kindern herumhüpfen.“
    „Mir würde es Spaß machen.“
    „Nach meinen Berechnungen würde eine Eintrittskarte für den Zoo dann um 1345 Prozent mehr kosten. Und der Tourismus in der Region Kantō würde um zwei Billionen und siebenhundert Millionen Yen pro Jahr wachsen.“
    „Du bist wirklich ein furchtbarer Salaryman! Was mache ich bloß hier mit dir?“
    Iulana schaut nicht einmal zur Seite. In einer blitzschnellen Bewegung zieht sie die Geldbörse aus ihrer Handtasche und einen kleinen Revolver. Dann gibt sie mir die Geldbörse und zielt mit der Waffe auf meinen Bauch:
    „Sag meinen Namen. Sag meinen Namen, sofort!“
    Es wäre das erste Mal, dass mir der Name Iulana über die Lippen kommt. Darauf bin ich nicht vorbereitet. Den Namen einer Frau auszusprechen ist keine Kleinigkeit. Trotzdem öffne ich ihre Brieftasche und suche zwischen einer Unmenge von Quittungen, Reklamezetteln für Schminke und Cremes, Visitenkarten und mehr Geld, als ich erwartet hatte, nach irgendeiner Art von Dokument. Nichts davon ergibt für mich einen Sinn, bis ich auf ein kleines blaues Papier stoße mit einem Passbild von Iulana als Jugendliche und neben dem Foto eine Reihe lateinischer Buchstaben,

Weitere Kostenlose Bücher