Das Ekel von Säffle
Er gähnte ununterbrochen, als er schwerfällig und unbeholfen seinen Rasierapparat aus der Schreibtischschublade holte.
Die Helden sind müde, dachte Martin Beck.
Er war zwar 48 Jahre alt und der ältere von ihnen, aber Rönn war auch bereits 43, und die Zeiten, in denen man ungestraft eine Nacht durchmachte und am nächsten Morgen trotzdem fit war, war für beide endgültig vorbei.
Außerdem hielt sich Rönn wohl unbewußt an seinen einmal gefaßten Vorsatz und sagte von sich aus keinen Ton, so daß sich Martin Beck schließlich zu der Frage zwingen mußte:
»Na, was hast du erreicht?« Rönn wies gequält auf seinen Notizblock, so als ob der eine tote Katze oder ein ekelhaftes Insekt sei, und entgegnete mit kaum verständlicher Stimme: »Da. Ungefähr zwanzig Namen. Ganz durchgelesen habe ich nur die Anzeigen aus Nymans letztem Jahr als Revierführer. Dann hab ich noch die Namen von denen aufgeschrieben, die ihn in der Zeit davor angezeigt haben. Wenn ich sämtliche Unterlagen durchgesehen hätte, würde ich noch heute abend da hocken.« Martin Beck nickte und Rönn fügte hinzu:
»Und auch noch morgen und übermorgen und überübermorgen.«
»Ich halte es für zwecklos, noch länger Akten zu wälzen«, entschied Martin Beck. »Die Angaben, die du mitgebracht hast, werden wohl auch schon älteren Datums sein.«
»Stimmt.« Rönn nahm seinen Rasierapparat und ging schleppenden Schritts hinaus. Das Kabel schleifte er auf dem Fußboden hinter sich her.
Martin Beck setzte sich an seinen Schreibtisch und begann mit gerunzelter Stirn Rönns ineinander gekritzelte Notizen zu dechiffrieren. Das fiel ihm schon unter normalen Bedingungen nicht leicht, war jetzt natürlich noch schwieriger und würde ihm bis zu seiner Pensionierung Kopfzerbrechen bereiten.
Nach und nach gelang es ihm, Namen und Adressen und den Grund der Anzeigen auf einen linierten Stenogrammblock zu übertragen.
John Bemlsson, Hilfsarbeiter, Götgatan 20, Mißhandlung. Und so weiter.
Als Rönn aus dem Waschraum zurückkam, war die Liste fertig. Sie enthielt zwanzig Namen.
Die kurze Unterbrechung der Arbeit und das kalte Wasser hatten nicht vermocht, Rönns Aussehen zu verändern, im Gegenteil, er wirkte noch kläglicher als vorher; man konnte nur hoffen, daß er sich nicht mehr so verschwitzt und schmutzig vorkam, aber es wäre eine Zumutung gewesen, anzunehmen, daß er sich nun wieder unternehmungslustiger fühlte.
Eine Aufmunterung in irgendeiner Form war vielleicht angebracht. Peptalk, wie man das heutzutage wohl nannte.
»Hör mal, Einar, ich weiß, daß du und ich jetzt nach Hause gehen und uns schlafen legen müßten. Aber wenn wir noch kurze Zeit weitermachen, finden wir vielleicht was Entscheidendes.
Das ist doch den Versuch wert, nicht?«
»Ja. Kann sein«, sagte Rönn zweifelnd.
»Wenn du dir beispielsweise die ersten zehn Namen hier vornimmst und ich den Rest, können wir schnell den derzeitigen Aufenthalt dieser Leute feststellen und sie entweder von der Liste streichen oder sie für eine Überprüfung vormerken. Hab ich recht?«
»Ja. Wenn du das so sagst.« Seine Stimme klang kein bißchen überzeugt, und etwas wie Entschlossenheit oder Kampfbereitschaft fehlte natürlich erst recht.
Statt dessen versuchte Rönn krampfhaft, die Augenlider aufzuhalten, und schniefte vor sich hin. Aber er setzte sich gehorsam an den Tisch und zog das Telefon heran.
Martin B eck mußte sich eingestehen, daß es naiv war, sich von dieser Arbeit einen Erfolg zu erhoffen.
Während seiner aktiven Zeit hatte Nyman wahrscheinlich Hunderte von Personen mißhandelt, nur ein kleiner Teil von ihnen hatte sich schriftlich beschwert und durch Rönns summarische Untersuchung waren sie nur einem Bruchteil dieser Leute auf die Spur gekommen.
Aber die Erfahrung langer Jahre hatte ihn gelehrt, daß fast alles bei dieser Arbeit sinnlos schien und daß oftmals Fakten, die später zum Resultat geführt hatten, zu Beginn als aussichtslos oder unwichtig eingestuft worden waren.
Martin Beck ging nach nebenan und begann zu telefonieren, aber schon nach drei Gesprächen war er in Gedanken woanders, und er blieb mit der Hand auf dem Hörer untätig sitzen. Es war ihm nicht gelungen, den Aufenthaltsort eines einzigen der Leute auf seiner Liste festzustellen, und jetzt dachte er an etwas völlig anderes.
Wenig später zog er seinen eigenen Notizblock heraus, blätterte darin und wählte die Nummer von Nymans Wohnung. Der Junge meldete sich.
»Nyman.« Die Stimme
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