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Das elektronische Glück

Titel: Das elektronische Glück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dieverse Autoren
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immer darauf, daß sie mich schon früher gekannt hat. Sie ist überzeugt davon und möchte auch mich überzeugen.
     »Erinnerst du dich, Kolja«, fragt sie mich, »wie wir beide am Telezker See neben dem Lagerfeuer der Fischer übernachtet haben?«
     »Ist das schon lange her?«
     »Das war vor drei Jahren.«
     »Vor drei Jahren erst? Ich kann mich sogar an Dinge erinnern, die vor dreihundert Jahren geschehen sind.«
     »Da gab es uns beide ja noch gar nicht.«
     »Dich nicht, aber mich.«
     »Du machst doch bestimmt Spaß, Nikolai!«
     »Schon möglich.«
     »Du redest manchmal so merkwürdig. Was ist in diesen anderthalb Jahren nur mit dir geschehen? Verheimlichst du mir etwas? Manchmal scheint es mir, als hätte man dich vertauscht. Als wärst du nicht du!«
     »Wer sollte ich denn sein?«
     Sie antwortet nicht.
     »Sag, wer?«
     »Das mußt du besser wissen.«
     »Du gehst jetzt also nicht mit mir… Mit wem denn dann?«
     »Mit dir, beruhige dich. Mit dir gehe ich. Ich habe dich geliebt und liebe dich, so wie früher. Doch weshalb machst du so seltsame Scherze?«
     »Das weiß ich auch nicht.«
     »Und woran denkst du jetzt? Du siehst aus, als ob du weit weg wärst.«
     »Ich denke darüber nach, was das Leben ist.«
     »Frag ein Kind, und es wird dir antworten.«
     »Nein, nicht jeder weiß es. Ein Denker hat gesagt, das Leben sei eine einzige Kette von Gewohnheiten. Was meinst du, hat er recht?«
     »Gewohnheiten? Teilweise stimmt das. Ohne Gewohnheiten kann man nicht leben. Ich habe mich zum Beispiel daran ge wöhnt, dich zu sehen und deine Stimme zu hören. Es gefällt mir, neben dir herzugehen. Das ist auch eine Gewohnheit. Ist das etwa schlecht?«
     Ich weiche der Antwort aus. Wollte ich ihr antworten, müßte ich ihr sagen, daß das Leben auf der Dilnea ein Kampf gegen jede Gewohnheit, ein heftiger Kampf gegen die Routine ist. Auf der Dilnea kämpft man gegen die Gewohnheiten, um sie nicht über den eigenen Wissensdrang siegen zu lassen, über den Wunsch, täglich etwas Neues zu schaffen, Hindernisse zu überwinden und allem zu widerstehen, was im Wege steht. Aber das sage ich ihr nicht. Ich kann ihr nichts von der Dilnea erzählen. Für sie bin ich ein irdischer Mensch, und irdisch, nur irdisch, muß ich ihr gegenüber bleiben.
     »Erinnerst du dich, Kolja?« fragt sie träumerisch.
     Mit solchen Fragen möchte sie wohl die Kluft zuschütten, möchte sie die Entfremdung beseitigen, die uns trennt.
     »Erinnerst du dich, Kolja, wie wir…«
     Dummchen! Ich kann mich noch daran erinnern, wie die Kutschen hier durch die Straßen jagten und Würdenträger mit gepuderten Perücken beforderten. Ich habe den Dichter Dershawin gesehen, wie er in singendem Tonfall eine lange Ode vortrug, ich habe die leibeigenen Bauern den Sumpf an der Stelle zuschütten sehen, wo du jetzt stehst. Ich habe gesehen… Ich habe zuviel gesehen und erinnere mich an zu vieles, und das hindert mich daran, mit dir zu sprechen und dich anzusehen. Hinter deinem Rücken sehe ich die Unendlichkeit: den Kosmos, das Nichts und das Vakuum, das ich überwunden habe, um hierherzugelangen, neben dir zu sein, in demselben Jahrhundert, in dem du lebst. Du sagst, wir sind zusammen. Ja, zusammen. Doch bevor ich mit dir zusammen war, mußte ich… Nein, das vergißt man lieber.
     »Warum antwortest du denn nicht, Kolja? Bist du wieder abwesend. Liebster?«
     »Nein, ich bin hier. Nur hier und an keinem anderen Ort.«

    16

    Wenn ich für längere Zeit aus dem Hotel weggehe oder wegfahre, nehme ich immer das Etui mit, in dem sich das Klümpchen wunderbarer Materie befindet, das von Emotionen, Leidenschaften, Vorurteilen und Erinnerungen erfüllt ist. Ich trage es immer bei mir; ständig verfolgt mich die Angst, es irgendwo liegenzulassen oder zu vergessen. Ich gebe es nicht aus den Händen. Aufmerksame Menschen haben das längst bemerkt und auf ihre Weise gedeutet. Sie denken, ich habe ein Manuskript oder Aufzeichnungen bei mir, von denen ich mich nicht trennen will. Darin liegt ein Körnchen Wahrheit. In dem Klümpchen wunderbarer Materie schreibt das Leben selbst all das auf, was des Aufschreibens und der Erinnerung wert ist.
     Zur Zeit erhole ich mich an der Schwarzmeerküste und wohne in einem Sanatorium. Ich besteige gern hohe Berge und gehe ganz schmale Pfade dicht am Abgrund entlang. Manchmal mache ich auch lange Spaziergänge in Gesellschaft anderer Kurgäste, meistens aber gehe ich allein. Und wohin ich auch gehe,

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