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Das elektronische Glück

Titel: Das elektronische Glück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dieverse Autoren
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selbst erzählen will. Durch den Unglücksfall wurde jener Teil des Gehirns, der die Vergangenheit aufbewahrt, zu einer Art leerem Blatt.
     Der Tod drohte Larionow nicht. Aber kann man die rein physische Existenz, der die Erinnerung an die Vergangenheit und folglich die Empfindung der eigenen Persönlichkeit, des eigenen Ichs, abhanden gekommen ist, noch als Leben bezeichnen? Natürlich nicht. Und so kam dem Autor des Artikels, dem Experimentator Iwanzew, der Gedanke, die leere Stelle auszufüllen und dem Patienten die Möglichkeit zu geben, sich seines Lebens bewußt zu werden und es zu empfinden. Professor Iwanzew war es nicht möglich, die verlorene Vergangenheit wiederherzustellen; er beschloß daher, Larionows Bewußtsein mit einem fremden Leben zu erfüllen. So bekam er das Be wußtsein eines Reisenden, der von einem fremden Planeten auf die Erde gekommen ist.
     Nachdem ich den Artikel gelesen hatte, rief ich Professor Iwanzew an. Vielleicht hätte ich diesen Anruf wenigstens eine Stunde hinausschieben sollen. Ich war sehr erregt und daher nicht imstande, mich mit jener tadellosen Klarheit auszudrükken, die ich höher schätze als alles andere auf der Welt.
     »Der Schriftsteller Tunjawski?« fragte er mich, als ob er seinen Ohren nicht traute. »Der Autor der ›Uära‹? Der Stimme nach zu urteilen, sind Sie verärgert, weil Ihre erfundene und obendrein phantastische Erzählung eine Fortsetzung im realen Leben gefunden hat?«
     »Wenn Sie an meiner Stelle wären, würden Sie sich dann nicht ärgern?«
     »Warum erhitzen Sie sich deswegen? Und dazu noch am Telefon. Wenn Sie Lust und Zeit haben, kommen Sie zu mir.«
     Sein Laboratorium befand sich in demselben hypermodernen Gebäude wie die Klinik. Das Wort »Klinik« erweckt in mir stets eine Reihe nicht besonders angenehmer Assoziationen, verbunden mit Krankheiten und der langweiligen Atmosphäre von Krankenhauszimmern. Das Gebäude lag in einem Wald und paßte tadellos in die Landschaft, es war hell, etwas utopisch, kurz, eine Synthese aus den romantischen Träumen und der sachlichen Nüchternheit des Architekten.
     Ich dachte so bei mir, daß die Schwerkranken all diese Schönheit und Pracht mit Recht für überflüssig halten könnten. Es ist bestimmt nicht einfach, sich dort von der Welt zu verabschieden, wo sie einen so besonders schönen Rahmen hat.
     Iwanzew. Dieser Name war von einem geheimnisvollen Nimbus umgeben. Im Grunde konnte man ihn fast einen Magier nennen, wenn hinter dem, was er tat, nicht die größte Nüchternheit im Verein mit der größten Kühnheit gestanden hätte: Physiologie, gepaart mit der Gedankenwelt des Ingeni eurs und Technikers. Er hatte fast Unmögliches geleistet… Iwanzew empfing mich schlicht und herzlich, als wären wir schon lange miteinander bekannt.
     Kaum waren wir allein und hatten uns gesetzt, als mich seine Erzählung auch schon aus der Alltagswirklichkeit herausriß und mich das Leben und die Biographie des Mannes gefangennahmen, dessen Schicksal so seltsam mit meiner Phantasie verflochten war.
     »Ich bin Arzt und Ingenieur«, begann Iwanzew seine Erzählung. »Physiologe, Neurochirurg und Biologe. Ich bin kein Schriftsteller. Und wie andere habe auch ich mich oft gefragt, warum ich ein so ungewöhnliches Experiment durchgeführt habe, das eher einem Literaten als einem Arzt angestanden hätte. Aber was würden Sie an meiner Stelle getan haben? Auf dem Krankenbett lag ein Mann, Nikolai Larionow. Doch was war von dem Menschen übriggeblieben, den man Nikolai Larionow nannte? Der Name, einige Daten und Fakten, die in gedankenloser Bürosprache in seinen Akten festgehalten waren, sowie einige Ereignisse, von denen seine Bekannten und Freunde berichten könnten. Kann man die innere Welt eines Menschen, kann man seine Persönlichkeit etwa aus den fragmentarischen Erinnerungen seiner Zeitgenossen wiederherstellen, so daß ein lebendiger Mensch und kein Schema entsteht? Ich hatte einen Menschen mit dem Bewußtsein eines Neugeborenen vor mir liegen. Alles, was das Leben in seinem Gedächtnis aufgespeichert hatte, war durch einen Unglücksfall in dem chemischen Laboratorium, wo der Patient gearbeitet hatte, restlos ausgelöscht worden. Ich war mit Larionow bekannt, wenn auch nur flüchtig. Wir hatten uns bisweilen, vornehmlich feiertags, am gastlichen Tisch einer gemeinsamen Bekannten getroffen. Mir schien Larionow ein ganz alltäglicher Durchschnittsmensch zu sein, bis wir eines Tages ein Gespräch

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