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Das elektronische Glück

Titel: Das elektronische Glück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dieverse Autoren
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rieselten zur Erde wie Schuppen eines großen goldenen Fisches. So sehen sie also aus, dachte Astor und betrachtete den Alten unverfroren, so sehen sie aus, die wir mit der zweifelhaften Kraft unserer Phantasie erschaffen. Nachher erblicken wir sie als räumliche, verteufelt echte Gestalten auf dem Stereobildschirm. So jedoch, aus Fleisch und Blut, begegnen sie uns nie. Dieser Zwischenprozeß wurde aus dem Schaf fensakt herausgelöst. Und das ist wohl auch gut und richtig so, weil ein Autor, der seinem Helden einmal so begegnet ist, wie ich jetzt diesem Alten, nicht mehr imstande sein würde, ihn zum Leben, Denken, Fühlen und so weiter zu zwingen. Für das technische Personal des Studios – die Biokonstrukteure, Neuroplikatoren und Psi-Operateure – bleiben sie immer nur szenische Bioroboter, ferngesteuerte Anthropoiden ohne Rückkopplung. Wir allein, vielleicht nicht einmal alle, sondern nur einige von uns, wissen, wie sehr dies Menschen sind. Lebendige Menschen. Und wie wenig verstehen wir trotz allem, nein, es ist überhaupt nicht zu verstehen, wie unheimlich und schmerzlich es für uns ist, daß das tatsächlich lebendige Menschen sind.
     Der Alte blickte vor sich hin, ohne sich nach Astor umzuwenden, seine kleinen, sehr greisenhaften Hände lagen auf eine besonders kraftlose Weise auf den Knien. Er ist noch älter, als es scheint, dachte Astor. Überhaupt, wunderliche Gedanken gehen mir durch den Kopf, zum Beispiel, daß ich diesem Alten schon irgendwo begegnet bin. Obwohl, was ist wunderlich daran? Dem Alten kann ich nicht begegnet sein, das ist ein szenischer Bioroboter, eine materialisierte literarische Gestalt, nicht mehr. Aber er kann einen Prototyp besitzen. Den hab' ich bestimmt gesehen. Nicht im Institut, dann würde ich mich deutlicher erinnern. Im Schriftstellerverband also. Was geschieht wohl, wenn ich ihn einfach frage, wer er ist?
     Astor wollte gerade den Mund öffnen, als sich der Alte langsam zu ihm umdrehte und sagte: »Na schön, dann muß ich mich als erster vorstellen.« Er kniff die Lippen zusammen und sah wieder traurig in die Weite, als wartete er darauf, daß Astor ihn unterbräche und das Gespräch eröffne. Doch Astor hielt sich zurück. »Sehen Sie, ich bin Schriftsteller. Es ist immer ein bißchen peinlich, das von sich zu sagen.« Der Alte lächelte verständnisheischend, seine kleinen Hände bewegten sich unruhig auf den Knien. »Aber ich bin Wirklicher Schriftsteller.«
     Nun ja, dachte Astor, ich war's auch. Jetzt wird man mich aus dem Verband rauswerfen, und was das Schlimmste ist, alles war umsonst. Ein Dreck bin ich. Nichts habe ich vermocht.
     »Ich habe viele Bücher verfaßt«, sprach der Alte weiter. »Die letzten drei durfte ich materialisieren. Heute frage ich mich: Was war eigentlich die Hauptsache, was hat bei der Schaffung eines Wirklichen Buches die meiste Freude gemacht? Wenn man sich vornimmt, ein neues Buch zu schreiben, ohne noch genau zu wissen, was für eins, aber doch weiß, daß es ein eigenes Buch sein wird? Ist es die Entwicklung des Sujets oder das Auftreten des Helden? Welcher Augenblick prägt sich einem mehr ein: das erste Auftauchen des Helden in der eigenen Vorstellung oder die erste Begegnung mit ihm auf dem Bildschirm?«
     Komisch, dachte Astor. Er spricht jetzt mit mir, einem Fremden, den der Autor nicht vorgesehen hat. Das bedeutet, dieser ganze Monolog stammt nicht vom Autor. Das sind Gedanken, die unabhängig vom Willen dessen sind, der diesen Alten geschaffen hat. Beängstigend ist das. Nicht komisch, sondern beängstigend.
     »Ebensowenig wußte ich, wer von all meinen Helden mir der liebste ist. Bis vor kurzem wußte ich es nicht. Bis die Zeit kam, mich vom letzten zu trennen. Da begriff ich, daß mir dieser letzte so nahe stand, ich ihn so brauchte, daß die Trennung von ihm, daß sein Verschwinden für mich nicht nur wie der eigene Tod ist, es ist schrecklicher, denn darauf wird die Leere folgen, in der meine Existenz andauert.«
     Ein Jammerlappen bist du, dachte Astor in plötzlich aufkommender Erbitterung. Du bringst den Menschen um, den du ins Leben gesetzt und durchs Leben geführt hast. Du spielst mit deinen kleinen, zu nichts zu gebrauchenden Händchen, und inzwischen dematerialisieren sie ihn dort. Nicht dort, hier. Das geschieht hier, im Studio. Noch ein paar Minuten, dann ist es auch mit meinem Stor soweit. Wir sind beide Jammerlappen. Ich hab' ja auch nichts getan. Die Kraft hat nicht gereicht. Und der Verstand auch

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