Das elektronische Glück
denn in den Filmen dieses Studios lief die Zeit anders als im Leben gewöhnlicher Menschen ab. Manchmal wurde der Zeitablauf verlangsamt, eine halbe Stunde aus dem Leben des Helden zerfiel in eine Vielzahl kleiner und in ihrer Vereinzelung scheinbar unbedeutender Episoden; doch dann wurden diese Splitter durch zwei Kräfte, die wohlwollende äußere Aufmerksamkeit und die erbarmungslose innere Notwendigkeit, miteinander verbunden und wie auf einer großen Hand vor die Augen des Zuschauern geführt, Minuten eines erfundenen Lebens, deren Bedeutung sich durch die Verlangsamung der Handlung vervielfachte.
Meistens aber war es anders, da wurden Lebensjahre der Helden zu Stunden, nicht weil diese Jahre unwichtig und kleinlich waren, sondern wegen der Rahmenbedingungen der schriftstellerischen Aufgabe – ein ganzes Leben mußte zu einem kurzen Zeitabschnitt komprimiert werden. Damit war die Zeit der materialisierten Helden…
Eigenartig, warum nenne ich sie so? wunderte sich Astor. Bis jetzt sprach ich immer von lebenden Menschen. Erst in diesem Augenblick, hier vor der Mauer, kommt mir der ungewohnte Terminus »materialisierter Held« in den Sinn. Eine falsche Bezeichnung. Es sind lebende Menschen, nur in einer Hinsicht ungewöhnlich. Darin, daß sie völlig dem Autor gehorchen. Obwohl, ganz stimmt auch das nicht. Wie oft schon hat ein Autor gespürt, daß sich diese oder jene seiner Gestalten verselbständigt, daß die dem Helden diktierten Worte und Handlungen unnatürlich wirken. Manchmal geschieht es sogar, daß der Autor auf einmal begreift, daß ihn sein Geschöpf, sein Held, zwingt, das erdachte und ausgearbeitete Sujet zu verwerfen, weil der Held nur auf eine bestimmte Weise handeln kann; der Autor akzeptiert das und unterwirft sich der Entscheidung der von ihm geschaffenen Gestalt. Natürlich nur, wenn er feinfühlig genug ist. Es gibt auch Schriftsteller, die ihre Heiden dennoch nötigen, völlig entgegen ihrem Charakter zu handeln. Das wird dann meistens das letzte Werk so eines Schriftstellers, das Recht, ein Wirklicher Schriftsteller, der lebendige Menschen schafft, zu sein, wird ihm entzogen, und er bekommt keinen Zugang mehr zum Studio.
Was Astor Elamit jetzt vorhatte, wurde ebenfalls mit dem Entzug aller Rechte eines Wirklichen Schriftstellers geahndet, aber er konnte nicht anders handeln, Stor bedeutete ihm mehr als die eigene Person. Er mußte ihn retten, ohne an den Preis seiner Tat oder auch nur daran zu denken, ob es für Stor richtig war. Er mußte.
Astor machte noch einige Schritte auf die Mauer zu, blieb so dicht vor ihr stehen, daß sein Gesicht beim nächsten halben Schritt in die eisige Masse der Mauer getaucht wäre. In den Wangen spürte er ein Prickeln, als hinge vor ihm der Körper einer riesigen rauchgrauen Qualle. In diesen aufragenden Nebel mußte er hineingehen. Wiederum – er mußte.
Warum hatte er sich bis zu diesem Moment kein einziges Mal gefragt, ob er das tun konnte? Als sei das etwas Selbstverständliches. Er wußte viel über das Studio, alles – oder glaubte es mindestens zu wissen – über diejenigen, die nach dem Willen der Wirklichen Schriftsteller das Recht auf ein Leben innerhalb dieses Studios erhielten, und zwar ein Leben, das nicht selten farbiger und dessen Taten sehr viel folgenreicher waren als bei gewöhnlichen Menschen. Hunderte von Malen hatte er sich das gesagt.
Aber was wußte er von der Mauer? Er kramte in seinem Gedächtnis. Da war kein Winkel, in dem sich dieses Wissen verbergen konnte. Er hätte gefühlt, was er einmal gewußt und dann vergessen hatte. Da war nichts. Nur, daß er für das Vordringen auf die andere Seite mit dem Recht, lebendige Men schen zu schaffen, würde zahlen müssen. Doch selbst das war kein Wissen, sondern lediglich eine Ahnung.
Warum wußte er nicht, wie das mit der Mauer war? Und vor allem, würde er es vermögen, es wagen, in sie hineinzugehen?
Er stand, wartete, daß irgendwo in seinem Innern sich eine Antwort fände. Aber es fand sich keine, dafür zeichnete sich in Astors Bewußtsein deutlich eine Lücke, eine erinnerungslose Leere wie nach einer Ohnmacht ab, gleich danach fühlte er, wie in ihm die Empfindung der Unmöglichkeit, der Unzulässigkeit dessen wuchs, was er vorhatte, und um sich dem nicht zu unterwerfen, streckte er die Arme vor wie Menschen, die im Nebel gehen, und schritt hinein in den Rauchkörper der Mauer. Für einen Augenblick konnte er nichts sehen, dann verschwand der Rauch
Weitere Kostenlose Bücher