Das Elixier der Unsterblichkeit
vom Leben mehr verlangen?
EIN BRUDER ZU VIEL
Bald jedoch türmten sich dunkle Wolken über dem Haus in der Singelstraat auf. Denn Benjamin kam nicht allein, er brachte seinen Bruder mit in die Ehe.
Jeden Tag erlebte Mafalda, dass Benjamin mehr Zeit mit Bento verbrachte als mit ihr. Sie fühlte sich vernachlässigt und einsam. Während die Brüder sich in lebhafte Gespräche vertieften, war das Schweigen ihre tägliche Gesellschaft. Auch die nächtlichen Spiele fehlten ihr. Abend um Abend lag sie nackt und mit pochendem Herzen unter dem Laken, im Dunkeln auf Benjamin wartend, der bis weit nach Mitternacht aufblieb, um Bentos Aufzeichnungen ins Reine zu schreiben. Am Ende war sie davon überzeugt, dass ihm sein Bruder mehr bedeutete als sie. Oft wurde ihr Gesicht blutrot vor Wut, und sie schloss sich im Schlafzimmer ein, um zu weinen. Drei Monate weinte sie jeden Tag. Ihr Gemüt wurde nach und nach von Eifersucht vergiftet.
Abgesehen davon, dass er sie der Möglichkeit beraubte, die Früchte der Ehe zu genießen, gab es noch andere Gründe, warum Mafalda Bento nicht ertrug. Sie fand ihn herablassend und hochnäsig. Sie verstand sich überhaupt nicht auf ihn. Manchmal hielt sie ihn schlicht und einfach für wahnsinnig. Sein ständiges Dozieren über verschiedene Axiome und Prämissen und Euklids Geometrie waren in ihren Augen eine Form gehobenen Wahnsinns. Außerdem konnte er stundenlang dasitzen und eine Wand anstarren, völlig unerreichbar, versunken in einem Mysterium, das er selbst erfunden hatte. Es irritierte sie auch, dass er nachts laut schnarchte und oft hustete.
Mafalda wollte nicht, dass Bento weiter in ihrem Haus wohnte. Sie bezweifelte, dass es gesund war, mit ihm unter einem Dach zu leben. Außerdem war sie der Meinung, dass er den Menschen in seiner Umgebung die Kraft aussaugte, vor allem Benjamin. Sie selbst fühlte sich schon fast wie ein Gespenst.
Benjamin fiel es schwer, sich zu beherrschen und seine Verzweiflung zu verbergen. Genau dies hatte er gefürchtet.
Mafalda war unnachgiebig: Bento sollte aus dem Haus. Sie war zu Zugeständnissen bereit, aber keinen Tag länger würde sie den Schwager ertragen. Plötzlich bekam sie einen Wutanfall, schrie: »Er soll raus, er soll raus«, schleuderte ein Tintenfass an die Wand und warf sich schluchzend vor Selbstmitleid aufs Bett.
Benjamin wusste, dass es sinnlos war, mit Mafalda zu diskutieren, denn die Spannung, die sich in den vergangenen Wochen zwischen ihnen aufgebaut hatte, war an die Grenze des Erträglichen gestoßen. Er hatte keine Wahl, er musste nachgeben, so schlimm es auch für ihn war. Vernunftmäßig war er sich darüber im Klaren, dass es das Beste war, die Sache so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Aber es kostete ihn große Selbstüberwindung, dem Bruder davon zu erzählen.
Bento wurde blutrot im Gesicht. Er versuchte, Benjamin zu ignorieren, nahm ein Vergrößerungsglas hervor, studierte zwei Fliegen auf dem Küchentisch und räsonierte im Geiste Descartes’ über den Wert ihres Lebens. Doch das half wenig. Zwei Tage später sah er sich gezwungen, seine geringe Habe zu packen und zu einem Bekannten zu ziehen, dem Maler Mesach Tydeman, der im ländlichen Voorburg bei Den Haag wohnte.
Benjamin versprach Bento, für sein Wohlbefinden zu sorgen, nicht nur für seine Verpflegung und seinen Aufenthalt zu bezahlen, sondern ihm auch weiterhin zu helfen, seine philosophischen Gedanken aufzuzeichnen und die Texte zu redigieren.
Bento ließ bei Benjamin Trauer und ein schlechtes Gewissen zurück, aber auch unerwartete Schulden, die der ältere Bruder bezahlen musste, sowie ansehnliche Arztrechnungen. Benjamin fand es herzlos, Bento aus dem Haus zu jagen. Er war der Meinung, der Bruder sei zu krank, um allein zu sein, und seine Frau hätte mehr Mitgefühl zeigen sollen. Er ging Mafalda aus dem Weg, doch als sie ihm ein paar Tage später die Hand zur Versöhnung reichte, ergriff er sie mit Freuden.
Binnen kurzer Zeit entdeckte Benjamin, wie angenehm sich das Leben in der Singelstraat gestaltete – ohne Bento. Mafalda war strahlender Laune. Jetzt reichte die Zeit auch für eheliche Freuden und Fruchtbarkeit. Das Paar bekam vier Söhne, die von ihrem Vater nach einem selbst entwickelten pädagogischen System erzogen wurden. Sie wurden sämtlich gelehrte Männer. Der älteste, Aron, wurde zum Oberrabbiner von Paris ernannt. Ein anderer wurde Professor an der Sorbonne. Am Ende zogen alle Söhne mit ihren Familien nach Frankreich.
DER
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