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Das Elixier der Unsterblichkeit

Das Elixier der Unsterblichkeit

Titel: Das Elixier der Unsterblichkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabi Gleichmann
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auf Aramäisch aus dem Talmud und erklärte, dies sei der jahrhundertealte Rat gelehrter Rabbiner an einen jungen Mann, der ins Leben hinaustritt: Sei gefasst auf viele harte Prüfungen, aber wenn du den Schwachen Barmherzigkeit erweist, brauchst du nie in Angst vor den Starken zu leben.
    Die letzten Worte, die Baruch seinen Vater sagen hörte, lauteten: »Wenn jemand einen Stein auf dich wirft, so vergelte es ihm mit Brot.«
    Zum Abschied küsste ihn der Vater mit seinem faltigen Mund, umarmte ihn und drückte ihn so fest an sich, als wollte er ihn nie wieder loslassen. Der Aufbruch schmerzte Baruch, der die hängenden Schultern seines Vaters sah, seinen gekrümmten Rücken, sein von Tränen feuchtes Gesicht. Zugleich spürte er, dass er keine Wahl hatte. Seine Zukunft war vorherbestimmt, wenngleich in undurchdringlicher Nacht verborgen. Er ging mit entschlossenen Schritten und blieb erst stehen, als er zu der alten Eiche auf dem Hügel vor der Stadt gelangt war. Dort wandte er sich um und warf einen letzten Blick auf Espinosa. Von hier oben erschien ihm die Stadt klein und unbedeutend.
    Zwanzig Tage lang folgte Baruch dem Lauf eines Flusses in Richtung Lissabon. Er wanderte durch üppige Buchenwälder und schattige Täler, die nach Wiesenblumen dufteten, überquerte sprudelnde Bäche und schäumende Flüsse. Mit großen Augen sah er den zwischen den Baumstämmen flatternden Vögeln zu und studierte das Treiben der Käfer und Ameisen im Moos. Berstend vor Neugier sog er diese phantastische Welt in sich auf und malte sich aus, was er mit seinem jungen Leben anfangen würde. Am Fluss löschte er seinen Durst. Brot kaufte er von Bauern, die nicht selten unwirsch und grob waren; wenn sie erkannten, dass Baruch Jude war, behandelten sie ihn wie ein Waldungeheuer und riefen ihm zu, sich fernzuhalten. Auf einer Lichtung richtete er seinen Pfeil auf einen Hasen und empfand eine unerwartete Freude, als die leichtfüßige Kreatur dem Tod entging. Er sammelte Heilkräuter, wie er es von einer Nachbarin gelernt hatte. Die Frau, die wie eine Mutter für ihn gewesen war, hatte als Kind mit ihrem Vater León und Kastilien durchstreift, wo sie ihren Lebensunterhalt mit dem Verkauf wunderwirkender Tinkturen und Medikamente bestritten. Es kam vor, dass Baruch sich im Dunkel der Nacht verirrte und nicht wusste, wo er war. Einmal erkundigte er sich nach dem Weg nach Lissabon, aber der Bauer war ein Scherzbold und wies ihn in eine ganz andere Richtung. Baruch wurde wütend, als er bemerkte, dass er genarrt worden war. Die meiste Zeit empfand er jedoch ein eigentümliches Gefühl von Freiheit.
    Die letzten drei Tage seiner Reise glichen dem mühevollen Anstieg auf eine Anhöhe bei Gegenwind. Erschöpft, doch von Freude erfüllt, erreichte Baruch Lissabon. Seine Beine schmerzten und seine Rückenmuskulatur war verkrampft. Aber er vergaß seine Müdigkeit, als die Strahlen der Morgensonne in den Stadtkern fielen und die Kronen der uralten Palmen erglühen ließen. Umbrafarbene Wände schimmerten unter einem blauen Himmel. Als Baruch durchs Stadttor schritt, begann sein Herz zu hämmern. Er sah Frauen mit Körben voller Gemüse auf dem Weg vom Markt, ein paar aufdringliche Bettler, einen einbeinigen Jungen, der hilflos am Boden lag, einen älteren Mann, der eine ausgemergelte Kuh hinter sich her zog, magere Gesellen, die schwere Steine schleppten, Kaufleute, die mit fliegenden Händlern feilschten, er sah Mönche, Trinker und Soldaten. Aus einer Schmiede drangen laute Flüche. Die Stadt wimmelte von Leben und wirkte mindestens zehnmal so groß wie seine Heimatstadt. Verwirrt, wie er war, merkte er kaum, dass er vor einem maurischen Haus eine Wache anstieß. Der Mann war erbost und schrie: »Lümmel, was glaubst du, wer du bist?«, verlangte eine Entschuldigung und fragte ihn nach seinem Namen. Baruch war einen Moment sprachlos. Von Stummheit geschlagen stand er da und sah den immer erzürnteren Wächter an, der ihn vor die Brust stieß, sodass er fast gefallen wäre.
    Schließlich antwortete er: »Baruch de Espinosa.«
BEI DEM ZORNIGEN SCHMIED
    Schon am Nachmittag desselben Tages fand Baruch Arbeit als Gehilfe bei dem Meisterschmied Martes, der wegen seines hitzigen Temperaments gefürchtet, wegen seiner handwerklichen Kunst jedoch weithin respektiert wurde. Niemand im ganzen Land konnte so scharfe Schwerter herstellen wie er. Es war ein hartes Dasein in der Schmiede, die Arbeit war mühsam, die Kost kärglich, und Baruch lebte in

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