Das Elixier der Unsterblichkeit
weniger Tage waren aufgebrachte Volksmassen überall in den deutschen Staaten auf die Straße gegangen. Sie brachten handgreiflich ihre Empörung darüber zum Ausdruck, dass führende Juden, inspiriert von der Französischen Revolution, mit einem neu erwachten Selbstbewusstsein Reformforderungen gestellt hatten. Während dieses massiven und blutigen Pogroms wurden tausende von Juden überfallen, misshandelt und ermordet, ihr Eigentum wurde gestohlen.
In Frankfurt wurde nicht nur das jüdische Ghetto angegriffen. Der Pöbel fand auch den Weg zum Hause Rothschild. Es wurde geplündert und niedergebrannt. In den Ruinen fand man die verkohlten Leichen Angelas, Gerards, Dinahs und zweier älterer Haushälterinnen. Ein Diener mit starken Verbrennungen lag zusammengekrümmt in Embryostellung und weinte.
Lange hatte Amschel gehofft, seine eigenen Züge im Gesicht eines geliebten Sohnes sehen zu dürfen. In den ersten Jahren seiner Ehe mit Angela hatte er sich oft vorgestellt, wie seine Frau, noch matt von der Schwangerschaft, sich in eine glückliche Mutter verwandeln würde, die ihren neugeborenen Sohn an die Brust legte. Er konnte mit seinem inneren Ohr den ersten Schrei des Neugeborenen hören, nachdem das Kind aus dem warmen Paradies der Mutter herausgekommen war und die Luft ihren Weg in die kleinen Lungen gefunden hatte. Er konnte fast die weichen Säuglingsfinger in seiner Hand fühlen.
Doch Amschel bekam nie eigene Kinder.
Er dachte manchmal an Chiaras älteren Sohn wie an seinen eigenen, den natürlichen Erben. Deshalb war seine Trauer über Gerards Tod tiefer und überwältigender als die über den Verlust seiner Ehefrau Angela.
JAKOBS NEUE ELTERN
Auf den dunklen August folgte ein düsterer Herbst. Der Winter schien ebenfalls keine helleren Töne zu kennen. Chiara und Amschel verbrachten Weihnachten in diesem Jahr nicht in Bad Ragaz. Es kam für sie nicht in Frage, die lange Reise in die Schweiz mit einem neun Monate alten Baby anzutreten. Dass Amschel auf die erquickende Massage und die sonstigen Anwendungen verzichten musste, war nicht alles, er versäumte ebenfalls die Begegnung mit der wachsenden Schar internationaler Klienten seiner Bank, denn es wimmelte von vornehmen Gästen im Hotel Quellenhof, das mit seinen Badekuren und Spielsälen Europas Aristokratie und Oberschicht anzog.
Jakob hielt Chiara und Amschel für seine Mutter und seinen Vater, denn sie hatten ihn immer wie einen Sohn behandelt. Abgesehen von der Tatsache, dass seine Eltern tot waren, gab es zwei Gründe, warum sie ihn mit unendlicher Liebe an ihr Herz drückten. Er war sehr hübsch, hatte dabei aber etwas, was ihn von anderen Kindern unterschied: Seine Nase war unfassbar groß, und die rechte Schulter war schief gewachsen, sodass es aussehen konnte, als wäre er mit einem Buckel geboren. Durch die Macht der Gewohnheit bemerkten Chiara und Amschel dies mit der Zeit nicht mehr. Sie dachten nicht darüber nach, doch fremde Menschen bemerkten es sofort. Zwar kam niemand auf den Gedanken, ihn wegen seines körperlichen Gebrechens zu hänseln. Doch die Reaktionen der Menschen hinderten ihn daran, es zu vergessen.
Jakob wusste nicht, dass die Bürde in Form einer gigantischen Nase etwas war, was in unserer Familie in jeder Generation auftauchte und ein Leben voller Erfolge verhieß. Aber wenn Chiara tröstend zu sagen pflegte, dass er seinem Großvater, dem Revolutionär Nicolas Spinoza, wie aus dem Gesicht geschnitten sei, dann freute ihn das.
In Jakobs Adern floss das Blut der Familie Spinoza und auch das der Familie Luzzatto. Deren Mitglieder hatten sich seit vielen Generationen Studien gewidmet, Bücher und neue Ideen geliebt. Geld war ihnen nicht so wichtig. Chiara lehrte Jakob schon früh drei Sprachen, legte ihm die bedeutendsten Bücher aus den Kulturen dreier Länder in die Hände und gemahnte ihn so oft sie konnte: »Du besitzt nur das, was du im Kopf hast.« Gemeinsam unternahmen sie anregende Gedankenausflüge in die Geschichte, und zugleich verwendete sie viel Sorgfalt darauf, ihm verständlich zu machen, dass nichts beständig ist, dass man nirgendwo anders leben kann als im Jetzt. Und dass es kein Leben nach diesem gibt. Sie hielt es auch für unerlässlich, ihm einen Einblick in die Tradition jüdischen Denkens und die jüdischen Moralregeln zu geben.
Geld war für Amschel nur ein Mittel, niemals ein Ziel an sich. Insofern irrte sich Karl Marx, als er ihn beschuldigte, ein herzloser Mann zu sein, der nur dem Reichtum
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