Das Elixier der Unsterblichkeit
Mücken, die den Himmel verdunkelten und allem Lebenden das Blut aussaugten. Nach einigen Tagen waren die Glieder geschwollen von unzähligen Stichen und die Menschen hatten Mücken mit der Luft eingeatmet, die sie in die Lungen sogen. Es wurde unmöglich, sich draußen aufzuhalten. Alle saßen geduldig hinter geschlossenen Türen. Das einzige, was die Stille störte, die sich über das Gut gesenkt hatte, war das Glockenläuten zur Sonntagsmesse.
Als Jakob zu Ohren kam, der Pfarrer habe sich in seiner Predigt in der Kirche lange bei der dritten und vierten biblischen Landplage in Ägypten aufgehalten, bei denen Mücken in das Land Pharaos eingefallen waren, erstarrte er. Es musste etwas getan werden. Sofort. Er wusste nur zu gut, wie schnell gewisse unangenehme Vorstellungen Auftrieb bekamen und wozu das führen konnte.
Es war Chiara, der schließlich eine Lösung einfiel. Sie hatte einmal, außerhalb Frankfurts, gemeinsam mit Amschel einen Imkerhof besucht, und jetzt dachte sie an den Anzug der Bienenzüchter, wenn sie die Körbe versorgten. Sie schlug vor, dass die Frauen aus allen Stoffen, die sie auftreiben konnten, Gesichtsmasken, Hauben und Handschuhe nähen sollten. Innerhalb weniger Stunden bekamen alle die Möglichkeit, zu ihrer Arbeit zurückzukehren, verschleiert wie die Bienenzüchter.
Die Monate vergingen. Eine Jahreszeit löste die andere ab. Im fünften Winter, den Jakob auf dem Gut verbrachte, wurden mehrere Arbeiter und Angehörige ihrer Familien, vor allem Alte und Kinder, von chronischem Husten mit blutigem Schleim, hohem Fieber, Brustschmerzen, Schweißausbrüchen und starkem Gewichtsverlust befallen. Der Arzt hatte den Verdacht, es könne sich um Schwindsucht handeln, die verbreitet werde, wenn die Menschen husteten oder niesten.
Der Pfarrer hatte eine andere Interpretation. Er behauptete mit erschreckender Leidenschaft, es handle sich um Gottes Strafe dafür, dass die Menschen sündhaft gewesen seien, Hurerei getrieben und sich selbst besudelt hätten. Bei einem Besuch bei der Familie des Gärtners, in der mehrere Kranke dahinsiechten, deutete der Pfarrer an, es gebe einen Vampir auf dem Gut, der ihnen die Lebenskraft ausgesaugt habe. Viele glaubten ihm.
Jakob musste umgehend Maßnahmen ergreifen, um die Ansteckung und die Verbreitung der Krankheit wie auch die Gerüchte, die der Pfarrer in Gang gesetzt hatte, einzudämmen. Dem Arzt zufolge boten die Beengtheit und die mangelnde Hygiene in den Häusern der Arbeiter einen günstigen Nährboden für die Schwindsucht. Ohne sich zuvor mit Rudolf zu beratschlagen, nutzte Jakob einen Teil des erwirtschafteten Gewinns, um die Lebensbedingungen der Arbeiter zu verbessern. Er ordnete an, alte Häuser abzureißen und neue zu bauen. Außerdem ließ er eine Krankenstation und eine Schule für die Kinder einrichten.
ZWEI TODESFÄLLE
Die Arbeiter begegneten Jakob mit bedauernden Blicken, als bekannt wurde, dass Chiara krank geworden sei. Die Familie hatte schon seit Tagen ein schwaches Husten aus ihrem Zimmer vernommen. Nachts lag sie schweißgebadet und wurde von Eleonora gepflegt. Der Arzt konnte kein Heilmittel für die Schwindsucht finden, alle Hilfe kam für sie zu spät. Er bereitete Jakob darauf vor, dass sie den Frühling nicht mehr erleben werde.
Die Kinder nannten sie Großmutter. Sie liebten es, ihre Geschichten zu hören. Jeden Freitagabend pflegte Chiara ein Stück aus dem bekanntesten Werk ihres Großvaters Rabbi Moshe Chaim Luzzatto
Messilat Yesharim
(Der Weg der Gerechten) nachzuerzählen, das wie eine moralische Diskussion zwischen einem weisen Juden und einem frommen Juden gestaltet ist. Am letzten Sabbat, den sie mit der Familie feierte, drei Tage bevor sie starb, erzählte sie von einer dunklen Prophezeiung. Sie handelte von einem Feind Israels, der das gesamte Volk bedrohe. Er werde den Juden eine Niederlage zufügen, von der sie sich über Jahrtausende nicht wieder erholen würden. Sein Name laute – Chiara schwieg und starrte abwesend vor sich hin. Die Kinder, Jakob und Eleonora saßen mit großen Augen und warteten auf den Namen. Doch der war dem Vergessen anheimgefallen.
»Kinder«, sagte sie nach einigen Sekunden der Stille, »ihr wisst gar nicht, wie privilegiert ihr seid, in einer Zeit zu leben, in der nichts eure Sicherheit bedroht. Eure Vorväter hatten nicht dieses Glück, und ich fürchte, dass auch die, die nach euch kommen, es unendlich viel schlechter haben werden.«
»Großmutter«, ergriff der vierzehnjährige
Weitere Kostenlose Bücher